Hinter der Gewalt: Der Dschihadismus am Beispiel von Frauen in der Schweiz
Géraldine Casutt, Universität Freiburg, 2025
Der Dschihadismus in der Schweiz – ein vielschichtiges Thema
In der Schweiz, aber auch bei unseren europäischen Nachbarn, wird die Terrorgefahr derzeit als hoch eingestuft. Die Schweiz ist bisher von spektakulären Anschlägen verschont geblieben. Allergings kam es auch hier in der Vergangenheit bereits zu drei Gewalttaten mit dschihadistischem Hintergrund, darunter eine im November 2020, die von einer Frau verübt wurde. Für den jüngsten Vorfall im März 2024 war ein Minderjähriger verantwortlich, dessen schlimme Tat von der Gruppe «Islamischer Staat Provinz Chorassan» gefeiert wurde. Bei dieser Gruppierung handelt es sich um einen Ableger des Islamischen Staates in Afghanistan, einer der derzeit in Europa am meisten gefürchteten Terrorgruppen. Neben Personen, die in Gewalttaten involviert sind, gibt es in der Schweiz auch solche, die wegen anderer Handlungen im Zusammenhang mit gesetzlich verbotenen Gruppierungen beobachtet oder strafrechtlich verfolgt werden. Darunter auch Frauen. Auch wenn sie als Beteiligte an terroristischen Aktivitäten weiterhin eine Minderheit bleiben, sind sie für das Verständnis des Ausmasses, der Ziele und der Resonanz des Phänomens von Bedeutung.
Dieser kurze Beitrag soll die vielfältigen Ausdrucksformen des Dschihadismus in der Schweiz am Beispiel von Frauen beleuchten.. Ziel des Artikels ist es, besser zu verstehen, warum sich die vom Dschihadismus ausgehenden Herausforderungen nicht nur auf Ausdrucksformen physischer Gewalt reduzieren lassen. Vielmehr muss auch die Bedeutung von Aktivitäten berücksichtigt werden, die sich hinter den Kulissen der eigentlichen Terrorhandlung abspielen, die aber denselben Zielen dienen. Im Folgenden wird zunächst auf Fälle von Frauen aus der Schweiz eingegangen, die sich nicht nur einer dschihadistischen Gruppierung angeschlossen haben, sondern dafür auch ins Ausland gereist sind. Anschliessend wird auf die Propagandathematik eingegangen und gezeigt, dass Gewalttaten nur einen Aspekt des Dschihadismus darstellen, der gemäss der Ideologie des islamistischen Terrorismus nicht die primäre Aufgabe von Frauen ist.
Gewalt ist nur ein Mittel unter vielen
Um die Rolle und Bedeutung von Frauen im Dschihadismus besser zu verstehen und die Herausforderungen aufzuzeigen, die solche in der Schweiz verbotenen Gruppierungen darstellen, muss diese Art von Terrorismus über die gewalttätigen Aktionen hinaus und vor dem Hintergrund der ideologischen Grundlagen des Phänomens betrachtet werden. Nur so lässt sich die Vielfalt der eingesetzten Mittel verstehen. Der Dschihadismus ist eine Strömung des Islamismus, die Gewalt als legitimes und notwendiges Instrument betrachtet, um eine Welt nach islamischem Recht zu errichten. Der Dschihadismus mobilisiert Akteur:innen aber auch für Rollen, in denen sie sich für dieses Ziel engagieren können, ohne auf gewalttätige Mittel zurückgreifen zu müssen. So nehmen Dschihadistinnen in der Logik der Komplementarität der Geschlechter, in der das Gewaltmonopol bei den Männern verbleibt, ihre primäre Rolle als Mutter und Ehefrau ein. In dieser Position haben sie die Möglichkeit, an der vom Dschihadismus propagierten Gesellschaft teilzuhaben. Sie unterstützen das Vorhaben aber auch in aktiveren Rollen, z. B. bei der Erstellung und Verbreitung von Propagandamaterial oder bei der Beschaffung von finanzieller Mittel. Eher selten fühlen sich Frauen im Rahmen ihres jihadistischen Engagements zu Gewalttaten berufen. Solche Gewaltakten von Frauen durchbrechen das dschihadistische Prinzip der Komplementarität der Geschlechter. Interessanterweise entsprechen diese Frauen aber eher dem gängigen Bild des «Dschihadismus», da dieser vor allem mit aktiver Gewaltausübung assoziiert wird. Demgegenüber werden Aufgaben wie die der Ehefrau und Mutter, die nicht mit Gewalt verbunden sind, eher als passiv oder gar nebensächlich betrachtet, obwohl sie im Dschihadismus eine den Gewaltaktionen vergleichbare Bedeutung haben.
Anschluss an eine dschihadistische Gruppierung in deren Einsatzgebiet
Im Mai 2024 schlossen sich 92 in der Schweiz wohnhafte Personen einer dschihadistischen Gruppierung in deren Einsatzgebiet im Ausland an. Die meisten dieser Ausreisen waren zwischen 2012-2016 während des Aufstiegs der Terrorgruppe «Islamischer Staat» im irakisch-syrischen Gebiet zu beobachten, bevor diese Gruppierung 2017 an Territorium verlor. Unter den aus der Schweiz ausgereisten Personen befanden sich nur wenige Frauen. Ihre Bestimmung war nicht wie bei den Männern die Teilnahme an Kampfhandlungen. Vielmehr sollten sie am Aufbau der vom «Islamischen Staat» propagierten Gesellschaft mitwirken, indem sie Mütter wurden und die Werte und Prinzipien der Gruppe vermittelten. Einige der Frauen, die damals die Schweiz verliessen, sind inzwischen vermutlich verstorben. Die Geschichten von zwei von ihnen jedoch zeigen auf besonders eindrücklich die aktuelle Situation dieser «Dschihad-Reisenden»: Selma, Mutter einer kleinen Tochter, die in den Medien regelmässig den Wunsch äussert, mit ihrem Kind in die Schweiz zurückkehren zu dürfen und Sahila, die erste Frau, der seit dem Zweiten Weltkrieg die Schweizer Staatsbürgerschaft entzogen wurde und deren beiden Kinder im Dezember 2021 in die Schweiz zurückgeführt wurden. Beide Frauen werden derzeit in einem von den kurdischen Streitkräften betriebenen Lager in Syrien festgehalten, während die Männer, denen eine Beteiligung an der Gruppe «Islamischer Staat» nachgewiesen wurde, in Gefängnissen sitzen, die ebenfalls der kurdischen Autorität unterstellt sind. Im Gegensatz zu europäischen Nachbarländern wie Frankreich führt die Schweiz derzeit keine Rückführungen von Erwachsenen durch.. Die Zahl der Personen, die aus der Schweiz ausreisen, um sich einer terroristischen Organisation anzuschliessen, ist zurzeit rückläufig.. Der Grund dafür dürfte eher darin liegen, dass es derzeit keine Gruppierung gibt, die dazu aufruft, sich den Anhänger:innen vor Ort anzuschliessen, und weniger darin, dass die Attraktivität der dschihadistischen Ideologie abgenommen hätte. Hier sei darauf hingewiesen, dass solche Vorhaben in der Schweiz strafbar sind. Dies unabhängig davon, ob es vor Ort zu Gewalttaten gekommen ist, wofür es oft keine Beweise gibt.. Alleine die blosse Absicht, sich einer terroristischen Vereinigung im Ausland anzuschliessen, stellt eine Straftat dar, wie das Beispiel einer zum Islam konvertierten Schweizerin zeigt. Sie wurde 2016 verhaftet, bevor es ihr gelang, sich mit ihrem Sohn der Gruppierung «Islamischer Staat» in deren Einsatzgebiet im Ausland anzuschliessen. Im Jahr 2017 wurde sie schliesslich zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt.
In und von der Schweiz aus begangene Taten
Die meisten Dschihadistinnen erfüllen ihre Hauptaufgabe als Ehefrau und Mutter, sei dies in ihrer Herkunftsgesellschaft oder innerhalb einer terroristischen Gruppierung im Ausland. Interessant ist jedoch, dass Frauen, die in Europa eine dschihadistisch motivierte Gewalttat planen oder sogar erfolgreich durchführen, nicht nur häufig von den Behörden daran gehindert werden, sich im Ausland einer verbotenen Gruppierung anzuschliessen, sondern auch mehrheitlich ledig und kinderlos sind. Dies war beispielsweise bei J.M. der Fall. Die 28-jährige Täterin wurde 2022 zu neun Jahren Haft verurteilt, nachdem sie im November 2020 im Manor von Lugano zwei Frauen schwer verletzt und sich zur Mitgliedschaft in der Gruppierung «Islamischer Staat» bekannt hatte. Der «Islamische Staat» hat sich jedoch weder zu dieser Tat bekannt noch sie begrüsst. Dschihadistische Gewalt durch Frauen ist vielmehr ein Zeichen der Schwäche einer dschihadistischen Organisation, die die Bedeutung von Frauen vielmehr in der Erfüllung ihrer primäre Rolle im Dienste der ideologischen Sache sieht.
Manche Frauen engagieren sich jedoch nicht nur als Ehefrau und Mutter und erfüllen die von ihnen erwarteten Rollen. Vielmehr verbreiten sie teilweise über soziale Netzwerke und Messenger-Dienste Propagandamaterial verbotener Gruppierungen, was in der Schweiz in der Vergangenheit bereits Strafverfahren zur Folge hatte. Erwähnenswert ist hier das Beispiel einer in der Schweiz wohnhaften 27-jährigen Kosovarin, die im April 2022 zu 150 Tagessätzen verurteilt wurde und der die Ausweisung droht. Solche Ereignisse zeigen die Bedeutung des Internets als treibende Kraft in Radikalisierungsprozessen, aber auch als Medium für die Verbreitung gewalttätiger radikaler Ideologien und als Vernetzungsmöglichkeit für Personen mit ähnlichen Überzeugungen. Im Mai 2024 waren dem Nachrichtendienst des Bundes 822 Internetnutzende bekannt, die «in der Schweiz oder von unserem Land aus Material verbreitet hatten, das die dschihadistische Ideologie propagierte, oder die sich mit Personen in der Schweiz oder im Ausland in Verbindung gesetzt hatten, die dieselben Ideen vertreten» (NDB, Mai 2024).
Gewalt in einem breiteren Kontext betrachten, um Terrorismus wirksamer zu verhindern
Bei den Überlegungen zur Rolle der Frauen im Dschihadismus geht es also auch darum, unsere Wahrnehmung von «Terrorismus» zu hinterfragen. Meist wird Dschihadismus ausschliesslich mit spektakulären Gewaltakten in Verbindung gebracht. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass Gewalt für eine Gruppierung oder für Einzelpersonen kein Selbstzweck an sich ist, sondern nur ein Mittel unter vielen, um die von der verfolgten Ideologie vorgegebenen Ziele zu erreichen. Die Vielfalt der Straftaten in der Schweiz im Zusammenhang mit «verbotenen Gruppierungen», die im Nachrichtendienstgesetz definiert sind (Al-Qaida, Islamischer Staat und verwandte Organisationen), sollte uns verdeutlichen, dass ein:e «Terrorist:in» nicht nur durch eine Gewalttat definiert ist. Vielmehr sind Finanzierungs- und Unterstützungsmassnahmen sowie die Ausreise ins Ausland und der Beitritt zu einer dieser Gruppierungen andere Möglichkeiten, um die ideologische Sache der Gruppe voranzutreiben. Frauen sind nach wie vor unterschätzte Akteurinnen im Dschihadismus. Dies vor allem deshalb, weil ihr Engagement überwiegend nicht in Gewalttaten besteht. Ihre Beteiligung und ihre Funktionen, die von den verbotenen Gruppen durchaus geschätzt werden, sollten uns jedoch daran erinnern, dass sich der Dschihadismus nicht nur in gewalttätigen Aktionen manifestiert.. Die Vielfalt der Mittel und Wege, die von Anhänger:innen des Dschihadismus mobilisiert werden können, belegen, dass wir unseren Blickwinkel auf den Terrorismus unbedingt erweitern müssen. Nur so kann Terrorismus in der Schweiz wirksamer verhindert werden.
Zur Vertiefung
Literatur
Dussault A.-M. (2023, 14.11). Elle prônait le djihad depuis Fribourg. La Liberté.
Jubin S. (2020, 03.01). Une djihadiste vaudoise, mère de famille, est déchue de sa nationalité. 24 Heures.
Larroque A.-C. (2021). Géopolitiques des islamismes. Que sais-je ? PUF.
Lob G. (2017, 14.12). Elle part faire le djihad avec son fils de 4 ans, Swissinfo.ch.