Rückkehr, Neugeburt oder schrittweiser Übertritt: Überlegungen zur Bedeutung und zum Ablauf einer Konversion zum Islam
Federico Biasca, Universität Freiburg, 2024
Eine der zentralen Themen, mit welchen sich Forscherinnen und Forscher im Zusammenhang mit religiöser Konversion befassen, betrifft Veränderungen, die mit dem Beitritt zu einer Religion, dem Übertritt zu einer anderen Religion oder der Rückkehr zu einer früheren religiösen Zugehörigkeit, der bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden war, einhergehen (Hérvieu-Léger, 1999). Anders ausgedrückt geht es um die Frage, was sich im Leben eines Menschen, der «konvertiert» oder «zurückkonvertiert», ändert. Dieser Artikel beschäftigt sich mit Beiträgen, die die Theologie und Soziologie zu Veränderungen, die eine zum Islam konvertierende Person erlebt, leisten können. Er stützt sich dabei auf Erzählungen von Vereinsverantwortlichen, die Konvertitinnen und Konvertiten bei ihrer Konversion zum Islam begleiten und anweisen. Die vorgebrachten Argumente wurden in Interviews gesammelt, die mit Verantwortlichen von 15 muslimischen Vereinigungen aus der lateinischen Schweiz sowie deren Konversionsagentinnen und -agenten geführt wurden. Sie basieren demnach auf Berichten von Personen, die direkt mit der Betreuung von konvertierenden Personen betraut sind (Biasca: 2024). Die verschiedenen Aussagen zeigen, dass religiöse und performative Vorstellungen im Zusammenhang mit der Konversion und der Zugehörigkeit zum Islam voneinander abweichen. Dieses Spannungsfeld zwischen theologischen und soziologischen Aspekten widerspiegelt mögliche unterschiedliche Ansichten über die Konversion zum Islam.
Die religiöse Perspektive: «Den Islam annehmen» oder «zur fiṭra zurückkehren»
Die befragten Personen liessen zunächst eine kritische Distanz zum Begriff der Konversion erkennen. Ein Grossteil von ihnen betrachtete diesen als zu stark abweichend von den Interpretationen, die der Islam selbst anbietet, oder sogar als «zu christlich» (Biasca, 2024: 13-14). Während der muslimisch-theologische Diskurs keinen spezifischen Begriff kennt, um Menschen zu bezeichnen, die den Islam als Religion gewählt haben (Barylo, 2018), greifen Vereinsverantwortliche sowie Konversionsagentinnen und -agenten gerne Elemente aus der religiösen Tradition auf, um über diese Erfahrung zu sprechen. Anstelle von «Konversion» bevorzugen sie Formulierungen wie «den Islam annehmen» oder auch «zur fiṭra zurückkehren» (Biasca, 2024: 14). Letztgenanntes Konzept bezieht sich auf einen ursprünglichen Zustand, in den jedes Individuum als Geschöpf, das die einzigartige Natur Gottes zu erkennen vermag, hineingeboren wird, bevor es von der eigenen Familie innerhalb einer bestimmten religiösen Tradition, auch einer nicht-islamischen, sozialisiert wird (Yasien, 1991). Es ist im Übrigen nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die sich dem Islam angeschlossen haben, von «Rückkonversion» sprechen. Damit meinen sie die Rückkehr zum authentischen Selbst (Van Nieuwkerk, 2014), einem Zustand, der die Idee der fiṭra widerspiegelt, die von muslimischen Verantwortlichen und Konversionsagentinnen und – agenten verwendet wird. Eine konvertierte Person brachte diese Vorstellung am Rande eines Treffens mit einem Vereinsverantwortlichen sehr treffend auf den Punkt: «Ich habe mich nicht verändert, als ich den Islam angenommen habe. Vielmehr habe ich meine wahre Natur entdeckt» (Biasca, 2024: gesammelte Schilderung, nicht veröffentlicht). Das Aussprechen in Anwesenheit von bezeugenden Personen der Schahâda, des Glaubensbekenntnisses, symbolisiert zudem die Anerkennung der Existenz dieses einen Gottes sowie Mohammeds als seines Gesandten (zu den verschiedenen Bedeutungen, die dieses Ritual für die Konversion haben kann, siehe Galonnier, 2018). Aus religiöser Sicht entspricht die Konversion zum Islam einem Akt, durch den ein Individuum zu sich selbst zurückfindet. Durch die mit diesem Akt verbundenen Veränderungen entdeckt man «lediglich» das eigene, in den Tiefen der Seele verborgene monotheistische Wesen wieder.
Die soziologische Perspektive: Die Konversion zum Islam aus performativer Sicht
Ein eingehender Blick auf die Betreuungspraxis muslimischer Vereinigungen bei zum Islam konvertierenden Personen zeigte jedoch, dass das Konzept der Konversion mit weiteren Fragestellungen verbunden ist. Die verschiedenen Gespräche mit muslimischen Vereinsverantwortlichen sowie Konversionsagentinnen und -agenten verdeutlichten, dass es jenseits des religiösen Aspekts verschiedene Vorstellungen davon gibt, was Konversion bedeutet. Daraus liessen sich zwei idealtypische Vorstellungen ableiten: einerseits die Konversion als ein markanter Umbruch im Leben der betroffenen Person oder aber die Konversion als ein längerer schrittweiser Prozess. Die Idee der Konversion als ein deutlicher Bruch mit der Vergangenheit wurde treffend durch die von einem Verantwortlichen einer muslimischen Vereinigung genannte Vorstellung der Konversion als «Prozess eines Übergangs von haram zu halal» ausgedrückt (Biasca, 2024: 40). Bei diesem Prozess wird demnach eine klare Trennlinie zwischen dem Leben vor und nach der Konversion gezogen. Im Gegensatz zu dieser Sichtweise, bei der es eine Zeit «davor» und eine «danach» gibt, stellt die Konversion beim zweiten Konzept ein wichtiges Ereignis im Leben eines Menschen dar, bei dem auch seine Vergangenheit sowie sein kultureller Hintergrund und seine Sozialisation berücksichtigt werden müssen (Biasca, 2024: 41). Doch weder die Vorstellung von der Konversion als ein Umbruch noch als ein schrittweiser Prozess entsprechen wirklich der in der fiṭra enthaltenen Grundidee. Bei beiden Konzepten geht es nämlich um etwas, das von der konvertierenden Person gelernt und geleistet werden muss. Es ist also weniger eine Frage der Essenz, die schon immer in der konvertierenden Person vorhanden war, sondern eher eine Frage des Prozesses. Während im ersten Fall ein Mensch in gewissem Sinne ganz neu geboren wird, geht es im zweiten Fall um eine schrittweise Transformation. Interessanterweise betonen sowohl die Verfechterinnen und Verfechter der Konversion als einen klaren Umbruch als auch diejenigen, die sie als einen schrittweisen Prozess verstehen, die Bedeutung der Zeit, die erforderlich ist, um die Gewohnheiten einer Muslimin bzw. eines Muslims anzunehmen. Unabhängig davon, ob die konvertierte Person ihr Leben von Grund auf ändert oder ob sie lediglich neue Ansichten in ihren bisherigen Lebensweg einbaut, ist dies ein zeitaufwendiger Prozess: «Wer fünf Stufen auf einmal nehmen will, der fällt. Es ist also besser, einen Schritt nach dem anderen zu machen», meinte die Konversionsagentin und Lehrerin, die den Beitritt zum Islam als einen Abschnitt im Leben der Konvertitin oder des Konvertiten versteht (Biasca, 2024: 48). «Bei manchen Menschen dauert es ein ganzes Jahr oder auch zwei, (bei wieder anderen) sogar zehn Jahre», erklärte der Vereinsverantwortliche, der die Konversion als einen deutlichen Umbruch versteht (Biasca, 2024: Material gesammelt, aber nicht veröffentlicht).
Die Möglichkeit einer Synthese der beiden Konzepte
Wie lassen sich die stark religiös gefärbten Vorstellungen einer Konversion zum Islam, die weitgehend identisch auch in den Schilderungen der befragten Konvertitinnen und Konvertiten aufkommen, mit den stärker auf den performativen Aspekt ausgerichteten Beschreibungen der Vereinsverantwortlichen sowie Konversionsagentinnen und -agenten vereinbaren? Während der Feldforschung wurde klar, dass es sich bei der religiösen und der performativen Darstellung der Konversion zum Islam um die zwei Seiten derselben Medaille handelt. Der Begriff der fiṭra symbolisiert die universelle Natur der islamischen Vorstellung von dem einen Gott, die in jedem Menschen angelegt ist. Die fiṭra steht damit auch für die dieser Vorstellung innewohnende Offenheit gegenüber neuen Glaubensanhängerinnen und -anhängern. Der Universalismus des fiṭra-Begriffs erklärt gut die Selbstpositionierung der konvertierten Person, die im Islam eine potentiell allen Menschen offenstehende Religion findet. Mit den Interviews wiederum wurde deutlich, welche Begleitpraktiken erforderlich sind, um eine Muslimin bzw. ein Muslim zu werden. Die Schilderungen der muslimischen Verantwortlichen sowie Konversionsagentinnen und -agenten verdeutlichten, dass der Islam zwar eine Religion mit einer universellen Botschaft ist (die Berufung auf den einen und einzigen Gott), dass aber eine tiefe Verinnerlichung der Grundlagen und Praxis erforderlich ist, um als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft zu gelten. Mit anderen Worten: Während die fiṭra ein universelles Konzept ist und auf eine dem Menschen inhärente, von Geburt an gegebene Natur hinweist, die daher keinerlei Veränderung bedarf, sind die Glaubensvorstellungen, Praktiken und das eigene Verhalten spezifisch. Gerade das Erlernen dieser als islamisch geltenden Besonderheiten steht für den Beitrittsprozess zu dieser Religion im Mittelpunkt.
Für eine Integration der islamisch-theologischen und der soziologischen Perspektive
Das Beispiel zu den Vorstellungen, die mit dem Übertritt zum Islam und den damit einhergehenden Veränderungen verbunden sind, ist nicht nur von rein deskriptivem, sondern auch von methodologischem Interesse. Weisen diese Aspekte doch auf Dimensionen hin, die von ganz unterschiedlichen und möglicherweise komplementären Disziplinen analysiert werden können. Der religiöse Diskurs lässt sich aus Sicht einer islamisch-theologischen Perspektive untersuchen, die sich mit der Verwendung von Konzepten und Begriffen aus der muslimischen Tradition in einem zeitgenössischen Kontext und der (Wieder-)Aneignung durch Individuen befasst, die sich dieser Tradition anschliessen und theologische Konzepte und religiöse Erfahrungen auf ihre ganz eigene Art und Weise zur Sprache bringen. Die Tatsache, dass die Konversion zum Islam als eine Rückkehr zum authentischen Selbst gesehen wird, sollte daher nicht unterschätzt werden, denn sie ist ein wesentlicher Bestandteil des Subjektivierungsprozesses von Konvertitinnen und Konvertiten. Doch dieser Ansatz muss durch eine Perspektive ergänzt werden, welche eine Erforschung der Veränderungen in den Sicht-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen von konvertierten Menschen ermöglicht. Traditionsgemäss ist es die Soziologie, die sich mit solchen Themen befasst. Indem diese Disziplin die Prozesse des Lernens und der Übernahme neuer Überzeugungen und Praktiken innerhalb verschiedener religiöser Gruppen (Peergroups, religiöse Vereinigungen, Internet usw.) untersucht und sie in Bezug zur Vergangenheit der konvertierten Personen setzt, kann sie einen wesentlichen Beitrag zur Analyse von Veränderungen leisten, die mit dem Übertritt zum Islam einhergehen.
Bibliografie
Literatur
Barylo, W. (2018), People Do Not Convert but Change. Critical Analysis of Concepts of Spiritual Transitions, in K. van Nieuwkerk (ed.), Moving In and Out of Islam, University of Texas Press, 2018, pp. 27-43.
Galonnier, J. (2018), Moving In or Moving Towards? Reconceptualizing Conversion to Islam as a Liminal Process, in K. van Nieuwkerk (ed.), Moving In and Out of Islam, University of Texas Press, 2018, pp. 44-67.
Hervieu-Léger D. (1999). Le pèlerin et le converti. Paris : Flammarion.
Van Nieuwkerk K. (2014), « Conversion » to Islam and the construction of a pious self. In The Oxford Handbook of Religious Conversion, Rambo, L., R, & Farhadian, C., E. (ed.). Oxford: Oxford University Press, 667-686.
Yasien, M. (1991). Fitrah. The Islamic Concept of Human Nature. London: TA-HA Publisher Ltd.