Musliminnen und Muslime in der Schweiz, religiös oder spirituell?

Seit 2014 dokumentiert das Bundesamt für Statistik (BFS) in seiner alle fünf Jahre stattfindenden Erhebung zur Sprache, Religion und Kultur (ESRK) die religiösen und spirituellen Praktiken der Bevölkerung in der Schweiz, indem es eine repräsentative Stichprobe von Befragten fragt, ob sie sich selbst als «sehr» oder «eher» religiöse oder spirituelle Person beschreiben oder im Gegenteil als «eher nicht» oder «überhaupt nicht» religiös oder spirituell.

Musliminnen und Muslime im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung

Im Durchschnitt bezeichnen sich die Befragten mehrheitlich als wenig bis gar nicht religiös oder spirituell. Tatsächlich antworteten 2019 61,4% der Befragten unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, sie seien «eher nicht» (31,9%) und «überhaupt nicht» religiös (29,5%), eine Zahl, die seit 2014 stabil geblieben ist, als 63% diese Frage so beantworteten.

Wenn man diese Ergebnisse mit der Bevölkerung muslimischen Glaubens vergleicht, ergeben sich zwei wesentliche Feststellungen:

  1. Musliminnen und Muslime bezeichnen sich selbst als religiöser und spiritueller als die Gesamtbevölkerung. So bezeichnen sich 21,5% der Musliminnen und Muslime als «sehr» religiös und 40,6% als «eher» religiös. Im Vergleich wären die Musliminnen und Muslime in der Schweiz somit religiöser (62,1%) als die Gesamtbevölkerung (38,6%).
  2. Im Gegensatz dazu betrachten sie sich zu einem ähnlichen Anteil wie die Gesamtbevölkerung als spirituell: 42,5% der Muslime antworten in diesem Sinne, verglichen mit 41% der Gesamtbevälkerung.

Religiosität und Spiritualität mit oder ohne Zugehörigkeit zum l’islam

Quelle: BFS, ESRK 2019 / © SZIG/CSIS 2022

Vergleicht man die Musliminnen und Muslime mit Personen, die eine andere Religionszugehörigkeit angegeben haben, fällt ebenfalls auf, dass sie sich als religiöser erweisen (62,1%) als Katholikinnen und Katholiken (52,9%), Protestantinnen und Protestanten (40%), andere Christinnen und Christen (55,6%) und Angehörige anderer Religionen (55,8%). Sie sind hingegen weniger religiös als die Mitglieder der evangelikalen Kirchen (82,7%).

Religiosität und Spiritualität nach Religionszugehörigkeit

Quelle: BFS, ESRK 2019 / © SZIG/CSIS 2022

Musliminnen und Muslime halten sich ebenfalls für relativ spirituell (42,5%), ähnlich wie die Mitglieder anderer christlicher Gemeinschaften (44,6%) und in gewissem Masse auch wie die Katholikinnen und Katholiken (40,8%). Mit Ausnahme der Evangelikalen, die sich ebenfalls überwiegend als spirituell bezeichnen (60,8%), sind die Unterschiede bei der Spiritualität zwischen konfessionellen und nicht-religiösen Gruppen weniger ausgeprägt als bei der Religiosität.

Welche Unterschiede gibt es innerhalb der muslimischen Bevölkerung?

Innerhalb der Stichprobe bei der muslimischen Bevölkerung sind auch Unterschiede festzustellen. So zeigt sich beispielsweise, dass Frauen religiöser sind (69,2%) als Männer (57,5%), die ihrerseits angeben, etwas spiritueller zu sein (44,5%) als Frauen (39,5%).

Religiosität und Spiritualität nach Geschlecht

Quelle: BFS, ESRK 2019 / © SZIG/CSIS 2022

Interessant ist auch, dass junge Menschen (15-24 Jahre) sich im Durchschnitt als religiöser bezeichnen als die 25-44-Jährigen und die 45-65-Jährigen. Tatsächlich bezeichnet sich fast drei von vier Muslimin und Muslim im Alter von 15 bis 24 Jahren als «eher» bis «sehr» religiös, während es bei den Musliminnen und Muslimen im Alter von 25 bis 44 und 45 bis 64 Jahren nur jede und jeder Zweite bzw. rund 60% sind.

Schlussfolgerung

Obwohl mehr als ein Drittel der Musliminnen und Muslime in der Schweiz Schweizerinnen und Schweizer sind, haben gemäss den ESRK-Daten 2019 97% von ihnen einen Migrationshintergrund und 72% gehören der ersten Generation an (Roth und Müller, 2019, S. 9). Studien zeigen jedoch, dass die Religion häufig eine Ressource für die Migrationsbevölkerung bleibt und somit tendenziell für die Identitätsbildung von Personen mit Migrationshintergrund bedeutender ist als für Personen ohne Migrationshintergrund (Dahinden und Zittoun 2013, Schneuwly Purdie 2010). Darüber hinaus stellen der Stellenwert, den der Islam in den öffentlichen Debatten einnimmt, und die Feststellung einer gewissen «Rassifizierung» der sozialen Kategorie «Muslim» (Banfi 2021, Schneuwly Purdie 2017) ebenfalls Faktoren dar, aufgrund derer sich religiöse Identifikationsprozesse entwickeln können.

Schliesslich sei daran erinnert, dass Musliminnen und Muslime sich im Durchschnitt als religiöser bezeichnen als die nicht-muslimische Schweizer Bevölkerung, dass diese Zahlen aber nichts darüber aussagen, was es für sie bedeutet, sich als Muslimin oder Muslim zu bezeichnen, oder welche Bedeutung der Faktor Religion in ihrem Alltag hat. Andere Indikatoren, die sich auf Glaube und religiöse Praxis beziehen, ermöglichen es, ein noch vollständigeres und nuancierteres Bild der Musliminnen und Muslime zu präsentieren.

Methodologie

Diese Artikel basieren auf den vom Bundesamt für Statistik (BFS) veröffentlichten Daten zur Erhebung zur Sprache, Religion und Kultur (ESRK). Die Daten für 2014 wurden aus den entsprechenden Veröffentlichungen des BFS übernommen. Die Daten für 2019 basieren einerseits auf den Publikationen des BFS, andererseits aber auch auf der Neukodierung und Analyse der Daten aus der Stichprobe zur Zugehörigkeit zu einer islamischen oder aus dem Islam hervorgegangen Gemeinschaft. Die Daten für 2019 basieren somit auf einer Stichprobe von 521 Personen, die angaben, einer islamischen Kultur oder Religion anzugehören, sowie von Personen mit einer alevitischen Religionszugehörigkeit.

Wir danken Vincent Nicoulin für seine Arbeit an den Quellendaten sowie Maïk Roth vom BFS für seine sachkundigen Ratschläge und das Korrekturlesen.

Bibliografie
Literatur
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Mallory Schneuwly Purdie

Mallory Schneuwly Purdie ist Oberassistentin und Lehrbeauftragte am Schweizerischen Zentrum für [glossary_exclude]Islam[glossary_exclude] und Gesellschaft der Universität Freiburg. Sie ist Doktorin in Religionswissenschaft und Religionssoziologie. Ihre jüngsten Forschungsarbeiten befassen sich mit der Entwicklung der muslimischen Seelsorge im europäischen Kontext, mit Fragen zu Gender und [glossary_exclude]Islam[glossary_exclude] sowie mit den schiitischen Gemeinschaften in der Schweiz.

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