Normalisierte oder abgewertete Diversität: Herausforderungen und Strategien von Musliminnen und Muslime in der Schweiz

Meriam Mastour, selbständige Juristin und Sébastien B. Dupuis, Universität Freiburg, 2025

Wegen seiner vielen Bedeutungen ist der Begriff ‘Diversität’ manchmal schwer zu fassen. In diesem Beitrag gehen wir davon aus, dass sie keine Tatsache an sich ist, sondern das Ergebnis eines Differenzierungsprozesses: Diversität existiert nur durch soziale Interaktionen. Individuen oder Gruppen mobilisieren bestimmte Kategorien von Unterschieden auf Kosten anderer und machen diese relevant. In diesem Sinne wird Diversität in sozialen Situationen produziert, insbesondere durch sprachliche Handlungen.

Die Ressourcen, welche den Individuen zur Verfügung stehen, um auf die soziale Definition einer Kategorie einzuwirken, sind jedoch nicht gleichmässig verteilt. Sie hängen vielmehr von der sozialen Position der jeweiligen Personen ab. So kann argumentiert werden, dass bestimmte diskursive Produktionen hegemonial die Bestimmung von Differenz und Gemeinsamkeit prägen. Dabei bezeichnet Gemeinsamkeit Interessen, Erfahrungen oder andere Merkmale, die ein Individuum mit anderen teilt. In diesem Prozess werden einige Formen der Diversität tendenziell normalisiert, während andere gesellschaftlich abgewertet werden. Es sollte jedoch klargestellt werden, dass die Kriterien, die zur Definition von ‘guter’ und ‘schlechter’ Diversität herangezogen werden, nicht starr sind. Vielmehr entwickeln sie sich in Abhängigkeit von Raum und Zeit, vom sozio-politischen Kontext, von soziologischen Faktoren und von der wirtschaftlichen Lage. Im Rahmen dieses Artikels konzentrieren wir uns darauf, wie eine normative Definition von Diversität in der Schweiz sozial konstruiert wird und welche Auswirkungen sie auf die Art und Weise hat, wie sich Personen, die sich als Musliminnen und Muslime identifizieren oder als solche wahrgenommen werden, im sozialen Raum orientieren.

Diversität und Islam in der Schweiz

In den politisch-medialen Diskursen wird der Islam nur selten in seiner Pluralität erfasst. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wird der Islam mehrheitlich durch eine sicherheitspolitische Brille wahrgenommen, die ein homogenisierendes und essentialisierendes Verständnis von Islamität erzeugt . In der Schweiz wird der Islam während der Debatten um die Initiative zur erleichterten Einbürgerung (2003) zu einem politischen Thema und rückt 2009 während der Anti-Minarett-Abstimmung erneut in den Fokus. Seitdem wird die Religionszugehörigkeit als Kriterium für die Definition des Fremden (Lindemann und Stolz, 2014) und die muslimische Zugehörigkeit als Figur des Anderen (Gianni, 2016) eingesetzt.

In der Tat wird in einigen gesellschaftlichen Diskursen der Islam als eine totalitäre Religion verstanden, die der Schweiz fremd ist. Musliminnen und Muslime würden sich demnach ausschliesslich über ihre Religionszugehörigkeit definieren und diese Zugehörigkeit würde ihr gesamtes Verhalten bestimmen, was sie unfähig mache, die demokratischen Werte der Schweiz zu teilen und zu respektieren. Der Islam, oder zumindest bestimmte Arten, Islamität zu leben, werden somit tendenziell als eine ‘schlechte’ Form der Diversität kategorisiert. Dies wird auch von einer unserer Befragten[1] hervorgehoben, als wir sie fragen, wie der Islam in der Schweiz gesellschaftlich wahrgenommen wird:

«Die Frage des Islam ist typischerweise die Frage, bei der die, in Anführungszeichen, zu viel Diversität auftaucht. In der Tat wird ‘zu viel Diversität’ manchmal nicht so gesagt, aber hier geht es grundsätzlich um die Frage, was uns verändern kann, was wir akzeptieren können oder nicht.» (Souad, 2024)

Coping-Strategien und soziale Transformation(en)

Obwohl einige muslimische Personen dieser Essentialisierung ihrer Identität entgehen – insbesondere aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit (Dellwo, 2018 ;2019) –, sind andere manchmal gezwungen, ihr Verhalten an diesem diskursiven Rahmen auszurichten. So neigen sie dazu, Strategien zu entwickeln, um dieser Verobjektivierung und den Diskriminierungen, denen sie möglicherweise ausgesetzt sind, entgegenzuwirken. Coping bezeichnet Antworten und Reaktionen, welche ein Individuum entwickelt, um mit einer als angriffig empfundenen Situation umzugehen, diese zu reduzieren oder zu tolerieren (Lazarus und Folkman, 1984). Im Folgenden stellen wir verschiedene Coping-Strategien von Personen dar, die sich als Muslime und Musliminnen identifizieren und/oder sich als solche wahrgenommen werden, und zeigen, wie sie zur Veränderung des sozialen Blicks auf sich beitragen.

Strategischer Essentialismus

Um bestimmte Stigmatisierungen zu vermeiden und im öffentlichen Raum auftreten zu können, ohne als Angehöriger einer ‘schlechten’ Form von Diversität kategorisiert zu werden, betonten einige Personen aus minorisierten Gruppen strategisch eine Komponente ihrer Mehrfachzugehörigkeit und essentialisieren so ihr eigenes soziales Wesen. Dieser strategische Essentialismus (Spivak, 1996) ist manchmal in den Orientierungsprozessen von Personen zu finden, die als Muslime oder Musliminnen identifiziert werden und/oder sich als solche identifizieren. Beispielsweise betonen einige muslimische Gemeinschaften bosnischer Herkunft diskursiv die europäische Herkunft ihrer Islamität (Behloul, 2007; 2014). Durch diese Essentialisierung ihrer Kulturellen Zugehörigkeit versuchen diese Gemeinschaften, sich von einer stereotypen Lesart des Islams zu emanzipieren, die eine Unvereinbarkeit zwischen diesem und den demokratischen Werten der Schweiz annimmt. Indem sie versuchen, sich auf diese Weise von bestimmten muslimischen Gemeinschaften, insbesondere arabischsprachigen, zu unterscheiden, übernehmen diese Gemeinschaften bis zu einem gewissen Grad den Archetyp des «guten Muslims» (Mandani, 2004). Sie stellen sich also performativ als geschlechtergerecht, integriert, fleissig und einem europäischen, reformorientierten oder liberalen Islam zugehörig dar.

In einem anderen Zusammenhang lässt sich diese Strategie anhand des Falls eines Fastenbrechens in einem Asylzentrum illustrieren, das von einer Vereinigung junger Musliminnen und Muslime organisiert wurde. Während dieser Veranstaltung, an der auch Mitglieder des sozialpädagogischen Betreuungsteams teilnahmen, beschlossen zwei der Organisatorinnen, vor den Anwesenden das Gebet zu verrichten. Damit beabsichtigen sie «zu zeigen, dass gute Taten nicht nur von Nicht-Muslimen oder liberalen Muslimen, sondern auch von praktizierenden Muslimen vollbracht werden» (Ana, 2024). Durch eine temporäre Essentialisierung ihrer Religionszugehörigkeit versuchten diese Frauen, den Blick auf sich selbst zu dekonstruieren, indem sie verdeutlichen, dass muslimische Menschen altruistisch sind und sich aktiv am Gemeinwohl beteiligen. Tatsächlich findet diese «Gegenleistung» (Salzbrunn, 2012) in einem Rahmen statt, der gesellschaftlich positiv wahrgenommen wird. Indem die Gebetshandlung sichtbar gemacht wird, soll die muslimische Zugehörigkeit über die ‘gute’ Tat positiv konnotiert werden.

Leistung des Körpers

Der Körper und die Arten ihn zu inszenieren, können auch für Coping-Strategien mobilisiert werden. Seine Inszenierung dient manchmal als Orientierungshilfe und als Werkzeug, um auf die Welt einzuwirken (Mauss, 1934). Einige Personen, die als Musliminnen oder Muslime markiert werden und/oder sich als solche identifizieren, mobilisieren die Körpersprache, um einer verdinglichenden und teilweise abwertenden Lesart ihrer Religionszugehörigkeit zu entgehen.

Dies ist insbesondere bei Inaya der Fall. Als sie anfing, ein Kopftuch zu tragen, dachte sie, dass sie in gewisser Weise ein Bild des Islams und der ‘muslimischen Frau’ verkörpert. Inaya ist sich der Stereotypen bewusst, die ‘der muslimischen Frau’ gesellschaftlich anhaften, und setzt ihre Körpersprache ein, um diesen entgegenzuwirken, indem sie sich lächelnd und in farbenfrohen Kleidern zeigt. Indem sie sich auf diese Weise sichtbar macht, versucht Inaya, ihre Othering abzuschwächen und als eine Person wie alle anderen zu erscheinen. Diese Strategien der (In-)Visibilisierung (Salzbrunn, 2019), die über eine körperliche Performance erfolgt, finden sich auch im Fall einiger muslimischer Männer, die, um nicht als ‘Bedrohung’ wahrgenommen zu werden, sich besonders gepflegt kleiden und sich immer rasieren.

Vermeidungsstrategien

Eine weitere Coping-Strategie ist die Vermeidung. Unter diesem Begriff verstehen wir alle Vorkehrungen, die eine Person oder eine Gruppe trifft, um eine als angriffig empfundene Situation zu vermeiden. Im Fall von Personen, die als Musliminnen oder Muslime markiert werden und/oder sich als solche identifizieren, geschieht dies manchmal durch eine Distanzierung von der Zugehörigkeitsgruppe, auf die sie reduziert werden. Dies lässt sich anhand des Falls eines öffentlichen Fastenbrechens aufzeigen, das von einer Vereinigung junger Musliminnen und Muslime in einer Stadt in der Westschweiz organisiert wurde.

Mit dieser Veranstaltung sollte die kulturelle Diversität der Region, aber auch die innermuslimische Diversität gefeiert werden. Die religiöse Dimension des Anlasses wurde jedoch nicht sichtbar gemacht (Biasca und Chatagny, 2022). Tatsächlich fand das Gebet, das traditionell den Beginn des Essens markiert, nicht in dem für die Festlichkeit bestimmten Raum statt, sondern an einem ‘versteckten’ Ort, zu dem sich die Personen, die beten wollten, begeben konnten. In einem Kontext, in dem die muslimische Religionszugehörigkeit als ‘schlechte’ Form der Diversität angesehen wird, versuchten die Organisatorinnen und Organisatoren die gesellschaftliche Definition von ‘guter’ Diversität auf muslimische Menschen auszuweiten. Um dies zu erreichen, legten sie den Schwerpunkt auf die kulturelle Dimension des Iftar-Events und nicht auf seine religiöse Dimension.

Schlussfolgerung

In diesem Beitragwurde aufgezeigt, wie sich bestimmte stereotype Darstellungen konkret auf das Leben von Menschen und insbesondere auf ihre Orientierung auswirken. Durch die Entwicklung von Coping-Strategien versuchen die Betroffenen, den Inhalt der Stereotype zu verändern und so auf die soziale Wahrnehmung ihrer Religionszugehörigkeit einzuwirken.

Der Beitrag lädt auch dazu ein, sich in öffentlichen Einrichtungen und in der Gesellschaft verstärkt kritisch mit Stereotypen auseinanderzusetzen, die Menschen betreffen, die als Muslime markiert werden und/oder sich als Muslime identifizieren. Dies könnte durch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen muslimischen Organisationen und gesellschaftlichen Einrichtungen, die sich gegen Rassismus einsetzen, geschehen.

[1] Der vorliegende Artikel stützt sich unter anderem auf empirische Daten, die im Rahmen der Forschungsarbeit «Islamisch-theologische Studien: Diversität und Orientierung» gewonnen wurden. Diese vom Schweizer Zentrum für Islam und Gesellschaft durchgeführte Forschung wird von der Stiftung Mercator finanziert und zielt darauf ab, zu verstehen, wie sich muslimische Personen in einem diversifizierten sozialen Kontext orientieren.

Literatur

Behloul, S. (2016). Religion and the (De-)Construction of Diaspora: A comparing view of Albanian and Bosnian Muslims in Switzerland. Journal of Muslims in Europe, 5, 65-86.

Bisaca, F. et Chatagny, G. (2022). Rompre le ramadan au centre-ville. Terrain/Théories.

Dellwo, B. (2019). La figure du « musulman » comme antithèse du sujet néolibéral. Remettre la classe sociale au cœur des processus contemporains de racialisation. In M. Salzbrunn (Ed.). L’islam (in)visible en ville: Appartenances et engagements dans l’espace urbain (105-131). Genève : Labor et Fidès.

Dellwo, B. (2018). Les représentations de la mobilité au prisme de la culturisation : pour une étude intersectionnelle des élites transnationales de culture musulmane à Genève. In N. Ortar, M. Salzbrunn et M. Stock (Ed.). Migrations, circulations, mobilités. Nouveaux enjeux épistémologiques et conceptuels à l’épreuve du terrain (95-107). Aix-en-Provence : Presses Universitaires de Provence.

Gianni, M. (2016). Muslims’ integration as a way to defuse the “Muslim Question”: insights from the Swiss case. Critical Research on Religion, 4:1, 21-36.

Lazarus, R. et Folkman, S. (1984). Stress, appraisal, and coping. New York: Springer.

Lindemann, A. et Stolz, J. (2014). Use of Islam in the definition of foreign otherness in Switzerland: a comparative analysis of media discourses between 1970-2004. Islamophobia Studies Journal, 2:1, 44-58.

Mandani, M. (2004). Good Muslim, Bad Muslim. America, The Cold War, And The Roots Of Terror. New York: Pantheon.

Mauss, M. (1936). Techniken des Körpers. Journal de Psychologie, 32:3-4. Vortrag gehalten vor der Gesellschaft für Psychologie am 17. Mai 1934. Dieser Artikel bildet den sechsten Teil des posthum erschienenen Werks von Marcel Mauss (1978), Soziologie und Anthropologie (S. 363–387). Paris: Presses Universitaires de France.

Salzbrunn, M. (2012). Performing Gender and Religion: The Veil’s Impact on Boundary-Making Processes in France. Women’s Studies: An Interdisciplinary Journal, 41:6, 682-705.

Salzbrunn, M. (Ed.) (2019). L’islam (in)visible en ville. Appartenances et engagements dans l’espace urbain. Genève : Labor et Fides.

Spivak, G. C. (1996). Subaltern Studies: Deconstructing Historiography? In D. Landry et G. MacLean (Ed.), The Spivak Reader (203-237). London: Routledge.

Literatur

Dorlin, E. (2009). Vers une épistémologie des résistances. In E. Dorlin (Ed.). Sexe, Race, Classe, pour une épistémologie de la domination (5-18). Paris. Presses Universitaires de France.

Fassin, D. (2006). Nommer, interpréter. Le sens commun de la question racial. In E. Fassin et D. Fassin (Ed.). De la question sociale à la question raciale ? Représenter la société française (17-36). Paris : La Découverte.

Purtschert, P. et Meyer, K. (2009). Différences, pouvoir, capital : Réflexions critiques sur l’intersectionnalité. In E. Dorlin (Ed.). Sexe, Race, Classe, pour une épistémologie de la domination (127-146). Paris : Presses Universitaires de France.

Salzbrunn, M. (2014). Vielfalt / Diversität. Bielefeld: Transcipt.

Salzbrunn, M. (2013). The Concept of Diversity in Migration and Urban Studies. In D. Reuschke, M. Salzbrunn et K. Schönhärl (Ed.). The Economies of Urban Diversity (27-46). New York: Palgrave Macmillan.