Die Vielfalt des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen in der Romandie und im Tessin
Tatiana Roveri, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Servizio per l’integrazione degli stranieri – TI, 2024
Die zunehmende religiöse Pluralität in unserer Gesellschaft stellt die Schule vor verschiedene Herausforderungen, unter anderem vor die Aufgabe, Unterrichtsformen anzubieten, die es SchülerInnen ermöglichen, diese Vielfalt kennen zu lernen. In den letzten Jahrzehnten sind in der Schweiz im Rahmen der kantonalen Lehrpläne und in staatlicher Verantwortung verschiedene Formen des Religionsunterrichts entstanden. In einigen Kantonen haben solche Fächer das «traditionelle» Freifach des konfessionellen Unterrichts (römisch-katholisch oder evangelisch-reformiert) abgelöst, während in anderen kantonalen Kontexten diese Unterrichtsformen bis heute nebeneinander bestehen. Die verschiedenen Modelle des Religionsunterrichts, ob konfessionell oder nichtkonfessionell, hängen von zahlreichen Faktoren ab, welche mit den Besonderheiten der kantonalen Kontexte sowie mit lokalen und/oder individuellen Sensibilitäten in zusammenhängen. in der Deutschschweiz ermöglicht die rechtlichen Rahmenbedingungen einiger Gemeinden beispielsweise das Durchführen eines islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, so z.B. in einigen Schulen der Kantone Luzern, Zürich, Thurgau und Schaffhausen (vgl. den Beitrag von Andreas Tunger-Zanetti). In der französischsprachigen Schweiz und im Tessin findet dagegen der islamische Religionsunterricht nicht an den öffentlichen Schulen statt. In diesen beiden Regionen wird ein staatlich verantworteter Religionsunterricht und in einigen Kantonen auch ein römisch-katholisch oder evangelisch-reformiert konfessioneller Unterricht angeboten. Um zu verstehen, wie die religiöse Vielfalt und insbesondere der Islam in der Schule thematisiert werden, ist eine Analyse der vielfältigen kantonalen und lokalen Kontexte notwendig. Eine 2023 veröffentlichte Studie des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft der Universität Freiburg und des Zentrums Religionsforschung der Universität Luzern hat die Komplexität dieser Kontexte und Praktiken analysiert.
Eine Vielzahl von Perspektiven, AkteurInnen und Praktiken anhand von Beispielen in vier Kantonen
Für den Westschweizer und den Tessiner Kontext analysierte die Studie die Perspektiven zahlreicher AkteurInnen aus verschiedenen Bereichen in den Kantonen Genf, Waadt, Freiburg und Tessin. Im Rahmen der Studie wurden VertreterInnen von Pädagogischen Hochschulen sowie der öffentlichen Verwaltung (Bildungsdepartemente), Lehrpersonen, Mitglieder von Religionsgemeinschaften (muslimische und christliche) und interreligiösen Gruppen, aber auch andere relevante AkteurInnen befragt, die vom Thema Religionsunterricht in der Schule betroffen sind. Die vertiefte Analyse dieser Fälle zeigte eine Vielzahl von Perspektiven, Ansätzen und Praktiken in Bezug auf den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen.
Der staatlich verantwortete Religionsunterrichtist je nach kantonalem Kontext unterschiedlich gestaltet.. Die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Religionsgemeinschaften und Staat fällt in die Zuständigkeit der Kantone (Art. 72 Abs. 1 der Bundesverfassung), welche dieses Verhältnis jeweils in unterschiedlichen Kontexten aufbauen. Der in den kantonalen Lehrplänen verankerte Religionsunterricht ist ein emblematisches Beispiel für dieverschiedenen lokalen Besonderheiten und Sensibilitäten. Während in den meisten Kantonen der Westschweiz ein Unterricht mit der Bezeichnung Éthique et cultures religieuses angeboten wird, wird in Genf von Enseignement du fait religieux gesprochen, und im Tessin gibt es seit einigen Jahren das Fach Storia delle religioni. Die Anzahl der Unterrichtsstunden variiert von Kanton zu Kanton. In Freiburg und im Tessin gibt es sowohl einen staatlich verantworteten (und damit obligatorischen) Religionsunterricht als auch einen freiwilligen konfessionellen Unterricht, der von der römisch-katholischen und der evangelisch-reformierten Kirche angeboten wird.
In der Schule sind verschiedene Formen von Vielfalt anzutreffen und die Klassen werden immer diverser. In einigen Schulen ist der Anteil muslimischer SchülerInnen hoch, was die Frage aufwirft, was es bedeutet, Wissen über die eigene Religion – ob praktiziert oder nicht – in der öffentlichen Schule und aus einer nicht-konfessionellen Perspektive zu erwerben.
Lernen über den Islam und religiöse Vielfalt in der Schule
Der staatlich verantwortete Religionsunterricht ist in den Kontext der Geistes- und Sozialwissenschaften eingebettet, die auf die Stärkung von fachübergreifenden Kompetenzen wie die Entwicklung des kritischen Denkens und die Fähigkeit zur Analyse gesellschaftlicher Fragen abzielen. Ein solches Fach soll Wissen über verschiedene Religionen vermitteln und die Wahrnehmung der Komplexität religiöser Phänomene in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen fördern. Die verwendeten Ansätze, die je nach kantonalem Kontext und individueller Sensibilität variieren, sind soziologischer, anthropologischer und historischer Art. Nicht selten fördern die Verantwortlichen eine vergleichende Lesart religiöser Phänomene, und in einigen Kantonen wird mehr als in anderen die ethische Dimension betont.. Der Islam wird als eine von vielen Religionen in einem Kontext der Diversität thematisiert. Der Fokus liegt häufig auf Praktiken, Ritualen und sichtbaren Elementen der religiösen Vielfalt.
Obwohl der staatlich verantwortete Religionsunterricht in allen Kantonen relativ neu ist, wird er von den SchülerInnen mit Interesse aufgenommen, da sie oft wenig Vorwissen zu diesem Thema haben, sei es im Allgemeinen oder im Hinblick auf ihre mögliche Religionszugehörigkeit. Gemäss den Interviews mit Lehrkräften und Schulbehörden gilt dies auch muslimische SchülerInnen, die im schulischen Rahmen neue Sachverhalte im Zusammenhang mit dem Islam in seiner Vielfalt kennenlernen. Dieser nicht konfessionsgebundene Unterricht trägt somit zur Stärkung des Wissens und der Kompetenzen junger MuslimInnen bei und kann als wichtiger und ergänzender Bestandteil des Erlernens der eigenen Religion in der Familie oder in der Moschee gesehen werden. Bei fehlender religiöser Sozialisation kann so ein erster Kontakt mit dem Islam in der Schule stattfinden.
Die muslimische Realität in der Schweiz kennenlernen
Auf muslimischer Seite gibt es AkteurInnen, die sich dafür aussprechen, das gegenseitige Kennenlernen zwischen dem islamischen Religionsunterricht in den muslimischen Vereinen und dem Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen zu fördern.. Bestimmte Inhalte, die in solchen Unterrichtsformen vermittelt werden, werden als ähnlich und komplementär betrachtet, insofern in den Moscheen eine interne Reflexion gefördert, Werte vermittelt und Fragen zum Islam im Schweizer Kontext gestellt werden. Die befragten muslimischen Personen äussern den Wunsch, dass die Schule die von den MuslimInnen in der Schweiz gelebte Religion thematisiert. Während der Religionsunterricht das Lernen über den Islam im Hinblick auf Vielfalt stärkt, kann der Bezug zum schweizerischen Kontext je nach Praxis der Lehrpersonen und der verwendeten Lehrmittel variieren. Zahlreiche in der Westschweiz verwendete Lehrmaterialien werden von den Éditions AGORA in Zusammenarbeit mit den Erziehungsdepartementen der verschiedenen Kantone herausgegeben. Diese Unterrichtsmaterialien orientieren sich tendenziell an lokalen Beispielen und zeigen Statistiken zur Religionszugehörigkeit in der Schweiz.
Das Kennenlernen der lokalen muslimischen Gemeinschaften kann auch durch Exkursionen und Besuche von Gebetsstätten gefördert werden. Diese werden von den Lehrkräften organisiert, wenn sie für das Erreichen der pädagogischen Ziele als relevant erachten werden und die Neutralität des Unterrichts respektiert wird. Solche Besuche erfolgen in der Regel auf individuelle Initiative, durch mündliche Einladung (z.B. durch einen muslimischen Schüler/eine muslimische Schülerin, der/die von der Möglichkeit eines Besuchs in einer islamischen Stätte erzählt) oder im Rahmen grösserer. Ein Projekt der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz (IRAS-COTIS) mit dem Namen Dialogue en Route bietet seit 2017 thematische Besuche religiöser Stätten an, die von Unterrichtsmaterial begleitet werden, die auf die kantonalen Lehrpläne abgestimmt sind.. Diese Besuche werden von den beteiligten muslimischen AkteurInnen als wichtig erachtet. Diese sind der Ansicht, dass sie ein besseres Bewusstsein für MuslimInnen in der Schweiz fördern und es ermöglichen, gewisse Vorurteile abzubauen, die durch Medienberichte oder durch mangelnde Kenntnisse genährt werden können.
Die Rolle muslimischer AkteurInnen
Die gleiche Untersuchung zeigt, dass es lokale Besonderheiten und eine Vielzahl von Praktiken seitens der Lehrkräfte gibt, welche einen grossen Interpretations- und Handlungsspielraum bei der Vertiefung des Themas besitzen. Die SchülerInnen kommen auf unterschiedliche Weise mit verschiedenen religiösen Standpunkten in Kontakt: durch Unterrichtsmaterialien und deren Diversitäts-Ansatz, durch dialogorientierte Unterrichtsmethoden oder schliesslich durch den Besuch eines Gotteshauses, bei dem sie Mitglieder einer Religionsgemeinschaft begegnen. Der rechtliche Kontext, die Besonderheiten und Sensibilitäten jedes Kantons in Bezug auf den Unterricht und den «Platz» der Religion in der öffentlichen Sphäre spielen eine wichtige Rolle und beeinflussen die Interaktion zwischen der Schule und den Religionsgemeinschaften.
In diesem allgemeinen Kontext, der durch eine Vielzahl von Perspektiven, Ansätzen und Praktiken gekennzeichnet ist, ist es wichtig, die Rolle der muslimischen Personen zu berücksichtigen, die am Austausch mit der Schule beteiligt sind. Diese Personen zeigen nicht nur eine interreligiöse Feinfühligkeit, sondern auch eine besondere Aufmerksamkeit für den schulischen Kontext und für die Art und Weise, wie das Thema der religiösen Vielfalt innerhalb der Schule behandelt werden kann. Die Logiken des schulischen Religionsunterrichts ist den Mitgliedern der Gemeinschaften jedoch nicht immer bekannt.. Eine befragte muslimische Expertin hält es beispielsweise für notwendig, den Dialog mit den VertreterInnen der öffentlichen Schulen zu stärken, um ein gegenseitiges Verständnis für die Logik des Religionsunterrichts in Moscheen bzw. in Schulen zu schaffen. Wie bereits erwähnt, können diese beiden Unterrichtsformen, obwohl sie sich in ihren Inhalten und Zielen unterscheiden, als komplementär betrachtet werden.
Schliesslich gibt es eine Reihe von muslimischen Befragten, die als VermittlerInnen zwischen muslimischen Familien und der Schule fungieren und dabei helfen, pragmatische Lösungen für die Herausforderungen zu finden, die sich aus der religiösen Vielfalt im schulischen Kontext ergeben. Diese AkteurInnen verfügen über die Fähigkeit zur Selbstreflexion und über Kenntnisse des schulischen und religiösen Umfelds und können so als BrückenbauerInnen zwischen den in diesen beiden Kontexten identifizierten Bedürfnissen fungieren.
Zur Vertiefung
Literatur
Schmid, H., Tunger-Zanetti, A. & Winter-Pfändler, M. (2021). Islamic Religious Education in Switzerland. In L. Franken & B. Gent (Hrsg.). Islamic religious education in Europe. A comparative study. New York: Routledge. 226–240.
Links
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18 April 1999 (Stand am 13. Februar 2022), abgerufen am 10.01.2024.