Die muslimischen Gemeinschaften im Tessin zwischen Vielfalt, Unsichtbarkeit und sozialer Teilhabe

Foto/Photo: Luan Afmataj, 2025

Im Hinblick auf eine Stärkung des sozialen Zusammenhalts sowie eine gemeinsame Verantwortung von Institutionen und Zivilgesellschaft ist es unerlässlich, über sachliche Informationen und wissenschaftliche Erkenntnisse zur lokalen religiösen und kulturellen Vielfalt zu verfügen. Im Tessiner Kontext leistet die Studie «Re:Spiri. Cartografia della diversità religiosa e spirituale del Canton Ticino» (Re:Spiri. Kartografie der religiösen und spirituellen Vielfalt im Kanton Tessin), die vom Dipartimento delle istituzioni (Departement für Institutionen) des Kantons gefördert und vom Interkantonalen Informationszentrum für Glaubensfragen (CIC) durchgeführt wurde, einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis dieser Thematik. Die Studie analysierte die Merkmale der Religionsgemeinschaften und hob die grosse Vielfalt der im Tessin vertretenen Traditionen sowie innerhalb dieser Traditionen hervor. Die Studie stellt die zunehmende Diversifikation der religiösen Landschaft im Kanton und ihre Vitalität in Bezug auf religiöse Praktiken, sprachliche Vielfalt und soziokulturelle Aktivitäten vor. Schliesslich wurden die Verteilung der Kultstätten auf dem Gebiet (die auch anhand einer interaktiven Karte dokumentiert ist) sowie die Dynamik der Sichtbarkeit und des Zugangs zu Räumen untersucht, die oft zu den grössten Herausforderungen für die betrachteten Gemeinschaften zählen.

Die muslimischen Religionsgemeinschaften im Tessin sind Teil dieses dynamischen und vielfältigen Kontexts. Gestützt auf die Ergebnisse der Re:Spiri-Studie beschreibt dieser Artikel ihre Präsenz im Kanton, stellt die muslimischen Kultstätten vor und untersucht im Detail die Dynamik des Zugangs zu diesen Räumen. Abschliessend zieht der Artikel eine Parallele zwischen der architektonischen Unsichtbarkeit dieser Orte und der begrenzten Anerkennung der muslimischen Gemeinschaften als Teil der Tessiner Gesellschaft.

Seit Jahrzehnten im Kanton präsent

Im Jahr 2024 zählte die Re:Spiri-Studie neun muslimische Gemeinschaften im Tessin, darunter acht sunnitische und eine schiitische Gemeinschaft, die 1,8 % der 503 erfassten Religionsgemeinschaften ausmachten. Die Gründung muslimischer Religionsgemeinschaften spiegelt die fortschreitende Diversifikation der nationalen und kantonalen Religionslandschaft wider. Im Tessin vollzog sich dieser Prozess in mehreren Schritten, zunächst innerhalb des Christentums mit der Gründung der christkatholischen Kirche, der evangelisch-reformierten Kirchen und der anglikanischen Kirche ab dem 19. Jahrhundert. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erstreckte sich die Diversifikation auch über das Christentum hinaus, mit der Gründung der Theosophischen Gesellschaft (Esoterik) und der Israelitischen Gemeinde von Lugano (Judentum). Die religiöse Vielfalt im Kanton nahm jedoch ab den 1960er-Jahren infolge verschiedener Migrationsbewegungen und der Auswirkungen der Globalisierung erheblich zu. In dieser Zeit entstanden die ersten Bahai-Gemeinden, buddhistische Gemeinschaften und neue religiöse Bewegungen, während sich christliche Strömungen wie der evangelikale Protestantismus, der christliche Millenarismus, das orthodoxe Christentum und das orientalische Christentum vermehrten.[1]

Die Re:Spiri-Studie zeigt, dass sich die ersten muslimischen Gemeinschaften im Tessin in den 1990er-Jahren offiziell als Vereine konstituierten[2]. Die 1989 gegründete Türkisch-Schweizerische Islamische Vereine ihre Tätigkeit in einer Kultstätte im italienischsprachigen Teil Graubündens auf, bevor sie sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts endgültig im Tessin niederliess. 1991 wurde die Islamische Gemeinschaft des Kantons Tessin (Comunità Islamica nel Canton Ticino) gegründet, 1999 folgte der Verein Islam ohne Grenzen (Islam Senza Frontiere). Zwischen 2002 und 2009 wurden vier sunnitische muslimische Gemeinschaften gegründet: das Türkisch-Islamische Kulturzentrum in Lugano, das Albanisch-Islamische Kulturzentrum in Lugano, die Liga der Muslime im Tessin und der Islamische Kulturverein Mendrisiotto. Die einzige schiitische Gemeinschaft im Kanton ist das 2004 gegründete Kulturzentrum Imam Ali im Tessin. Vor Kurzem wurde der Verein Džemat Tessin gegründet.

Im Tessin kam es also ab den 1990er-Jahren zur Gründung von Vereinen und zur Bildung der ersten islamischen Religionsgemeinschaften, was ein Zeichen für eine bereits gut etablierte muslimische Präsenz im Kanton ist. Aus den Daten des Bundesamtes für Statistik (BFS) zur individuellen Religionszugehörigkeit geht hervor, dass sich 1970 0,1 % der im Kanton lebenden Bevölkerung als Muslime bezeichnete und dass dieser Prozentsatz in den folgenden Jahrzehnten, insbesondere von 1990 bis 2000, von 0,5 auf 1,5 % gestiegen ist. Im Jahr 2010 machte die muslimische Bevölkerung im Tessin etwa 1,8 % der Gesamtbevölkerung aus, eine Zahl, die in den folgenden Jahren konstant blieb. 2023 beträgt der Anteil der Menschen muslimischen Glaubens im Tessin 2,2 %, gegenüber 6 % auf nationaler Ebene. Gemäss diesen Daten, die sich auf die ständige Wohnbevölkerung ab 15 Jahren beziehen und wenig über die Häufigkeit religiöser Praktiken und andere Aspekte der Religiosität aussagen, leben 2023 rund 6800 Personen, die sich als Muslime bezeichnen, im Tessin (BFS, 2025).

Unsichtbare Kultstätten am Stadtrand

Zu den wichtigsten Ergebnissen der Re:Spiri-Kartierung gehört die Analyse der Typologie der Kultstätten, die es ermöglicht hat, das Gebiet unter dem Gesichtspunkt der (Un-)Sichtbarkeit dieser Räume zu interpretieren. Die Kultstätten der neun muslimischen Gemeinschaften im Kanton konzentrieren sich auf die urbanen Gebiete Chiasso (drei Gemeinschaften), Lugano (vier Gemeinschaften) und Bellinzona (zwei Gemeinschaften, die sich denselben Raum teilen[3]). Trotz dieser offensichtlichen zentralen Konzentration und der jahrzehntelangen Präsenz muslimischer Gemeinschaften im Tessin bleibt die Suche nach geeigneten Orten für ihre eigenen Gemeinschaften eine gemeinsame Herausforderung.

Die derzeitigen islamischen Kultstätten sind als solche kaum erkennbar und befinden sich oft in Industriegebieten und Randlagen ausserhalb der Stadtzentren. Die Realität, die im Deutschen mit dem recht anschaulichen Begriff «Hinterhofmoschee» bezeichnet wird, findet sich auch im Tessin wieder, wo sich alle muslimischen Gemeinschaften, wie rund siebzig andere im Kanton vertretene Religionsgemeinschaften, an Orten versammeln, die für die Ausübung religiöser Praktiken umgestaltet wurden, ursprünglich jedoch weder für religiöse Zwecke konzipiert noch gebaut wurden. Meist handelt es sich um ehemalige Geschäftsräume oder Wohnungen, die sich oft im Erdgeschoss von Wohngebäuden befinden. Für die meisten Menschen bleiben diese für die Ausübung religiöser Praktiken umgebauten Orte unsichtbar.

Das am 27. September 2025 eingeweihte Islamische Zentrum von Bellinzona von aussen gesehen (I). Foto : Luan Afmataj, 2025

Das am 27. September 2025 eingeweihte Islamische Zentrum von Bellinzona von aussen gesehen (II). Foto: Luan Afmataj, 2025

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Zugang zu den Räumlichkeiten wird nicht nur durch Fragen der (Un-)Sichtbarkeit bestimmt, sondern auch durch die Art der Nutzung der Räumlichkeiten, deren Eigentümer, Mieter, Untermieter oder Nutzniesser die Gemeinschaften sein können. Die Ergebnisse von Re:Spiri zeigen, dass nichtchristliche Gemeinschaften und solche, die erst kürzlich innerhalb des Christentums gegründet wurden, in der Regel Mieter sind oder die Kultstätte kostenlos nutzen dürfen. Dagegen sind sie seltener Eigentümer als römisch-katholische, evangelisch-reformierte oder christlich-katholische Gemeinschaften. Im Tessin befindet sich nur eine einzige islamische Kultstätte in Eigentum. Diese prekäre Raumsituation betrifft somit die Mehrheit der muslimischen Gemeinschaften, die den Mangel an geeigneten Räumen für die Ausübung ihrer Religion und die hohen Mietkosten als eine der grössten Herausforderungen bezeichnen, mit denen sie konfrontiert sind.

Zwischen architektonischer Unsichtbarkeit der Orte und Unsichtbarkeit der sozialen Rolle der Gemeinschaften

Die architektonische Unsichtbarkeit der Moscheen spiegelt sich in den sozialen Dynamiken wider und wirft Fragen der Inklusion und des Zusammenhalts auf. Im Tessin wie auch anderswo in der Schweiz spielen die soziale Teilhabe muslimischer Gemeinschaften und ihre Vielfalt in der öffentlichen Debatte nur eine marginale Rolle. Verschiedene Studien zeigen, dass muslimische Personen und Gemeinschaften oft als ein zu lösendes Problem dargestellt werden. In politischen und medialen Diskursen tauchen sie hauptsächlich im Zusammenhang mit Themen wie Radikalisierung oder einer vermeintlich mangelnden Integration auf (Trucco, Dehbi, Dziri, Schmid, 2025, 16–22). Ein solches Bild, das auf Ausgrenzungsmechanismen basiert und komplexe Zusammenhänge reduziert, wird durch die vorgestellten soziologischen Daten infrage gestellt.

Die Re:Spiri-Studie beleuchtet zahlreiche Aspekte der Vielfalt und der sozialen Rolle muslimischer Gemeinschaften. So werden für die Ausübung der Religion beispielsweise Italienisch – das in allen Gemeinschaften gesprochen wird – sowie Arabisch, Türkisch, Albanisch, Bosnisch, Farsi und Urdu verwendet. Die Dimension der sprachlichen Vielfalt vermischt sich auch mit den vielfältigen soziokulturellen Aktivitäten. Dazu gehören Italienisch- und Muttersprachenkurse, Arabischkurse und Koranlesungen. Viele Gemeinschaften bieten auch Vorträge, Religionsunterricht, ausserschulische Programme (z. B. Hausaufgabenbetreuung) sowie Freizeitaktivitäten wie Ausflüge und Gesellschaftsspieltage an.

Die Gemeinschaften feiern traditionelle Feste und beteiligen sich aktiv an interkulturellen und interreligiösen Veranstaltungen sowie an Aktivitäten, die von öffentlichen Einrichtungen gefördert werden, wie beispielsweise dem Festa dei Popoli / dem Fest der Völker in Locarno. Während des Monats Ramadan werden gemeinsame Fastenbrechen (Iftar) in grossen, für die Bevölkerung zugänglichen Räumen organisiert. Diese Initiativen verdeutlichen die Vielfalt der muslimischen Gemeinschaften und ihren Beitrag zur Tessiner Gesellschaft – Aspekte, die wie die Unsichtbarkeit der Kultstätten noch wenig Beachtung finden.

Das neue Islamische Zentrum in Bellinzona, das von zwei muslimischen Vereinen im Sopraceneri gemeinsam genutzt wird, von innen (I).
Foto: Luan Afmataj, 2025

Perspektiven für Vertiefung und Zusammenarbeit

Die muslimischen Gemeinschaften, die seit Jahrzehnten im Kanton aktiv sind, zeichnen sich durch ihre interne Vielfalt und ihre Dynamik aus, die sich nicht nur in religiösen Praktiken, sondern auch in der sprachlichen Vielfalt und den angebotenen soziokulturellen Aktivitäten widerspiegeln. Der vorliegende Artikel bietet einen Überblick über die Gemeinschaften, der auf quantitativen Daten basiert, die in einer zentralen Studie für das Tessin vorgestellt wurden[1]. Die daraus resultierenden Elemente deuten auf eine ähnliche Pluralität wie in anderen Kantonen hin. Und sie verdient es, anhand qualitativer Daten, die eine detailliertere Untersuchung der Vielfalt individueller Lebenswege und anderer Besonderheiten der muslimischen Gemeinschaften im Tessin ermöglichen, eingehender analysiert zu werden.

Obwohl sie sich aktiv beteiligen und einen bedeutenden Beitrag zum sozialen Zusammenhalt leisten, bleiben die muslimischen Gemeinschaften architektonisch weitgehend unsichtbar und gesellschaftlich wenig anerkannt. Vor diesem Hintergrund müssen die Institutionen kritisch darüber nachdenken, wie die Hindernisse überwunden werden können, die eine gleichberechtigte Teilhabe einschränken und die Sichtbarkeit des Beitrags der muslimischen Gemeinschaften zur Tessiner Gesellschaft schmälern. Zu diesem Zweck ist es unerlässlich, vertrauensvolle Beziehungen zu fördern und die Zusammenarbeit mit muslimischen Vereinen zu stärken, um den geäusserten Bedürfnissen gerecht zu werden, im Dialog nach gemeinsamen Lösungen zu suchen und die zukünftigen Herausforderungen gemeinsam anzugehen.

 

[1] Vgl. Moretti, F., Roveri, T. (Hrsg. Farahmand, M., Piraud, M.) (2024). Weitere Informationen zu den religiösen Traditionen und Strömungen im Tessin finden Sie im Glossar des Interkantonalen Informationszentrums für Glaubensfragen (CIC), das auf der Website Geo-religions.ch verfügbar ist: https://geo-religions.ch/panorama-de-lensemble-des-communautes-religieuses-et-spirituelles/, abgerufen am 22.09.2025.

[2] Alle derzeit im Tessin aktiven muslimischen Gemeinschaften sind als Vereine organisiert und unterliegen dem Privatrecht. Im Kanton sind gemäss Artikel 24 der Kantonsverfassung nur die römisch-katholische Kirche und die evangelisch-reformierte Kirche als öffentlich-rechtliche Körperschaften anerkannt. Der zweite Absatz dieses Artikels schliesst die Möglichkeit nicht aus, «anderen Religionsgemeinschaften die öffentlich-rechtliche Persönlichkeit zuzuerkennen»; die kantonale Gesetzgebung enthält jedoch keine genauen Angaben dazu, wie dieses Verfahren in der Praxis anzuwenden ist (Moretti, Roveri, 2024: 36–39).

[3] Siehe die interaktive Karte zur religiösen und spirituellen Vielfalt des Kantons Tessin, die auf der Website Geo-religions.ch des Interkantonalen Informationszentrums für Glaubensfragen (CIC) verfügbar ist. https://geo-religions.ch/it/, abgerufen am 26.05.2025.

[4] Vgl. Moretti, F., Roveri, T. (Hrsg. Farahmand, M., Piraud, M.) (2024). Re:Spiri. Cartografia della diversità religiosa e spirituale del Canton Ticino. Annuario di Storia Religiosa della Svizzera Italiana III, Theologische Fakultät Lugano.

Bibliografie
Literatur
Links
Zur Vertiefung
Literatur

Tatiana Roveri

Tatiana Roveri hat einen Abschluss in interreligiösen und in jüdischen Studien der Universität Bern und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin im Integrationsdienst des Kantons Tessin. Sie war Forscherin im Projekt zur Kartierung der religiösen und spirituellen Vielfalt im Kanton Tessin, das vom Interkantonalen Informationszentrum für Glaubensfragen im Auftrag des Departements für Institutionen durchgeführt wurde.

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