Mehr als Nothilfe – muslimische Wohltätigkeit in der Schweiz

Wohltätiges Engagement von Musliminnen und Muslimen in der Schweiz findet in verschieden­en Aktivitäten Ausdruck. Es wird nicht immer religiös begründet, knüpft aber an islamische Konzepte an, die auf die Unterstützung bedürftiger Menschen und die Förderung des Gemein­wohls abzielen. In religiösen Schriften taucht eine Vielzahl von Begriffen für unterschiedliche Arten von Spenden und ‹guten Taten› auf. Islamische Hilfswerke und Moscheegemeinden greifen auf Begriffe wie Zakat, Sadaqa und Qurban zurück, wenn sie Muslime zu Spenden und zu Freiwilligenengagement aufrufen. Mit Verweis auf islamische Quellen streichen sie die ethische Verantwortung der Muslime gegenüber ihren Mitmenschen hervor, die als untrennbar mit dem Glauben verbunden betrachtet wird. In diesem Beitrag werden diese islamischen Spendenarten überblicksartig vorgestellt und Einblicke in Entwicklungen des religiös motivierten Engagements in der Schweiz gegeben.

Zakat und Sadaqa – religiöse Pflicht und Wohltätigkeit

Die Begriffe Zakat und Sadaqa werden in Koran und Sunna weitestgehend synonym verwendet und auch heute in der Alltagssprache nicht immer klar abgegrenzt. Doch in religionsrechtlichen Schriften hat sich folgende Unterscheidung etabliert: Mit Zakat wird die religiös verpflichtende Sozialabgabe bezeichnet, die als eine der sogenannten fünf Säulen des Islam gilt. Sadaqa hin­gegen bezeichnet die freiwillige Wohltätigkeit.

Musliminnen und Muslime, die über ein festgelegtes Mindestvermögen verfügen, sind religiös verpflichtet, Zakat (dann auch: Zakat al-Mal) zu spenden. Dabei gelten auf verschiedene Vermögens- und Einkommensarten unterschiedliche Ansätze. Sie sind ausserdem zur Zahlung der ‹Zakat des Fastenbrechens› (Zakat al-Fitr) verpflichtet, die im Ramadan geleistet wird und pro Familienmitglied etwa einer Tagesration an Nahrung entspricht. Sie soll Bedürftigen die Teilhabe am Festessen am Ende des Fastenmonats ermöglichen. Es handelt sich im islamischen Verständnis bei der Zakat um einen Anspruch Bedürftiger, einem Recht gegenüber bessergestellten Muslimen. Die Nichterfüllung der Pflicht kommt einer schweren Sünde gleich. So hat die Zakat in erster Linie eine religiöse Bedeutung und erfüllt auch eine soziale Funktion, indem sie die Solidarität innerhalb einer Gemeinde fördert, wenn sie lokal eingesetzt wird. Die ökonomische Bedeutung der Zakat für die Armutsbekämpfung ist hingegen gering. Nur selten wurde die Zakat staatlich eingezogen, ihre Entrichtung obliegt im Grunde den Gläubigen. Sie wird in Staaten wie Saudi-Arabien und Pakistan aber als ein Element eines islamischen Finanz- und Sozialsystems erachtet. Seit den 1980er Jahren sammeln und verteilen zudem islamische Hilfswerke, NGOs und Banken die Zakat.

Sadaqa wird oft als Oberbegriff für jede andere Art der Spende oder Hilfeleistung verwendet. Zeitpunkt, Zweck, Form und Umfang sind nicht festgelegt. Neben materiellen Spenden kann selbst ein Lächeln oder tröstendes Wort als eine Sadaqa bezeichnet werden. Sie gilt als gott­gefällige Tat, die belohnt wird. Die sogenannte Sadaqa Dschariya oder ‹fortdauernde Spende› entfaltet eine langfristige Wirkung. Ihre Belohnung von Gott dauert nach islamischer Überzeugung daher auch an. Als Beispiel für eine Sadaqa Dschariya wird etwa die ‹fromme Stiftung› (Waqf) erachtet, die seit spätestens dem 8. Jahrhundert der Verbreitung islamischer Bildung oder generell dem Gemeinwohl diente. Heute werden hierzu neben ehrenamtlichen Tätigkeiten u.a. auch Blut- und Organspenden sowie Engagement im Umwelt- und Naturschutz gezählt.

Qurban-Spende

Wie das Fest des Fastenbrechens am Ende des Ramadans (Eid al-Fitr) ist auch das muslimische Opferfest (Eid al-Adha) mit einer Spende verbunden. Traditionell wird ein Opfertier geschlachtet. Das Opfer (Qurban) symbolisiert die Unterwerfung der Gläubigen unter den Willen Gottes und vereint wiederum die religiöse mit einer sozialen Dimension: das Opferfleisch wird mit Verwandten, Nachbarn und Bedürftigen geteilt. Schlachtopfer werden aber ganzjährig z.B. auch anlässlich der Geburt eines Kindes (ʽAqiqa), zur Erfüllung eines Gelübdes (Nadr) oder einfach als Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber Gott (Schukr-Qurban) erbracht.

Es handelt sich bei diesen religiösen Gaben vor allem um Naturalienspenden, die auch heute häufig noch direkt in Form von Speisen oder Geldspenden für den Kauf von Lebensmitteln abgegeben werden. Da das Schächten in der Schweiz nicht gestattet ist, bitten viele Schweizer Muslime Angehörige im Ausland, an ihrer Stelle zu opfern oder beauftragen eine Organisation in einem muslimischen Land das Opfer für sie zu.

Wer und was wird unterstützt?

Im Koran werden Personengruppen und Zwecke genannt, für die die Gläubigen spenden sollen. Als einschlägige Quelle für die Zakat wird oft auf Sure 9, Vers 60 verwiesen. Dort werden acht Zwecke genannt, darunter die Unterstützung von Armen und Bedürftigen, Sklaven und Gefangenen sowie Verschuldeten. Die Kategorie des ‹Ibn as-Sabil› (wörtlich: Sohn des Weges) wird heute häufig auf Flüchtlinge bezogen. Zudem ist die Rede von Zwecken ‹für die Sache Gottes›. In der islamischen Frühzeit wurden darunter auch militärische Bemühungen zur Verbreitung des Islams gefasst. In der Gegenwart beziehen Gelehrte diese Kategorie hingegen mehrheitlich auf nicht-kriegerische Handlungen und Zwecke, die auf Gottes Wohlgefallen ausgerichtet sind – und das umfasst vieles. Aus Sicht muslimischer Spender in der Schweiz berechtigen prinzipiell materielle Bedürftigkeit und Krankheit zum Erhalt von Zakat-Geldern. Die Unterstützung beinhaltet dabei Bildungsangebote, soziale Dienstleistungen und medizinische Betreuung. Auch die freiwillige Wohltätigkeit dient in Form von Geld, Sachgütern, Naturalien und freiwilliger Arbeit diesen Zwecken. Insofern unterscheiden sich die Begünstigten von Zakat- und Sadaqa-Spenden kaum voneinander. Allerdings vertreten viele Muslime die Ansicht, dass die Zakat eher Muslimen zugutekommen sollte, während Nichtmuslime mit Sadaqa unterstützt werden können.

Ein Zakat-Fonds für die Schweiz?

Gelehrte empfehlen generell, Spenden vor allem im unmittelbaren sozialen Umfeld zu leisten, da so eher sichergestellt ist, dass die Hilfe ankommt, wo sie ankommen soll und der Zusam­menhalt innerhalb der Gemeinschaft gestärkt wird. Muslime in der Schweiz spenden dennoch primär an Personen und für Zwecke im Ausland. Wie bei anderen stark durch Migration geprägten Gemeinschaften, spielen bei Muslimen der ersten und zweiten Generation Rück­überweisungen in die Heimatländer eine grosse Rolle. Ausserdem wichtig ist die Katastrophen­hilfe. In der Schweiz spenden Mitglieder ausserdem Zeit und Geld für ihre religiösen und ethnischen Vereine, die sich wegen der fehlenden öffentlichen Finanzierung mehrheitlich allein durch Spenden und Freiwilligenarbeit organisieren. Aktive in den Gemeinschaften sprechen sich schon länger dafür aus, einen zentralen Zakat-Fonds für die Schweiz einzurichten, aus dem Moscheevereine und soziale Projekte vor Ort finanziell unterstützt werden könnten. Denn unter jüngeren Muslimen verschiebt sich das Engagement stärker auf die Schweiz. Sie möchten sich zunehmend allgemeinen sozialen Bedürfnissen wie Bildung und Inklusion widmen. Die 2020 gegründete Schweizer Zakatstiftung (SZS) mit Sitz in Fribourg möchte die Zakat lokal sammeln und für soziale Anliegen einsetzen. Es finden sich allerdings keine öffentlichen Tätigkeitsberichte, die Auskunft über die Einnahmen und die Mittelverwendung geben. Solche Stiftungen für nationale Zwecke gibt es jedenfalls auch in Grossbritannien, Frankreich oder in den USA. Sie funktionieren ähnlich wie andere humanitäre Organisationen, mit einer staatlich von allen Gläubigen eingezogenen Steuer wie der Kirchensteuer ist dies nicht vergleichbar.

Spenden über die Moschee

Punktuelle Einzelinitiativen und wenig koordinierte Hilfsangebote gab es in den Moschee­gemeinschaften schon immer. So haben viele Moscheen eine Spendenbox und bitten die Besucherinnen und Besucher an der Freitagspredigt regelmässig um Spenden für die Moschee, sammeln für Katastrophengebiete oder verteilen Lebensmittel und Hilfsgüter an Asylsuchende. Die Vereine arbeiten zum Teil auch mit islamischen Hilfswerken zusammen und sind gekenn­zeichnet durch unterschiedliche Schwerpunkte und Präferenzen in Bezug auf die genutzten Gebekanäle und Hilfezwecke: Viele bosnische und albanische Moscheevereine unterstützen die Hilfsorganisation Islamic Relief, seit diese in den 1990er Jahren auf dem Balkan humanitäre Hilfe leistete. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt auf der Unterstützung von Kranken und Kriegs­invaliden in dieser Region. Die grossen türkisch-islamischen Verbände hingegen arbeiten mit eigenen Hilfsvereinen zusammen und haben einen Schwerpunkt im Bereich der religiösen Bildung (Bau von Moscheen und Koranschulen, Vergabe von Stipendien für Religionsstudenten). Einen besonderen Stellenwert hat die Palästina-Hilfe: Nicht nur arabische, sondern alle Moscheevereine und islamischen Hilfswerke sammeln immer wieder für Zwecke in den Palästinensischen Gebieten.

Islamische Hilfswerke

Neben direkten Spenden über persönliche Kontakte wird in der Katastrophen- und Entwicklungshilfe auch an grosse humanitäre Organisationen wie das Schweizerische Rote Kreuz oder Caritas gespendet. Islamische Hilfswerke, die Programme für religiöse Spenden­formen (Zakat, Sadaqa, Qurban) anbieten, haben in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. Ähnlich wie bei Hilfsorganisationen mit christlichem Hintergrund richten sich ihre Fundraising-Aktivitäten nach dem religiösen Kalender: Die wichtigsten Sammelaktionen finden im Ramadan und vor dem Opferfest statt, auf die rund 80% ihrer jährlichen Einnahmen anfallen.

Die 1984 in Grossbritannien gegründete Organisation Islamic Relief verfügt über Fundraising-Büros in den meisten Ländern Europas, so seit 1994 auch in der Schweiz. Gespendet wird von Schweizer Muslimen auch an die in Deutschland ansässige Organisation Muslime helfen e.V. sowie Hilfsvereine, die in der Palästinenserhilfe tätig sind, wie z.B. die Fondation Secours Humanitaire (FSH) in Genf.

 

Besonders nach 9/11 standen einzelne islamische Hilfswerke oder Hilfsvereine, die in Ländern des Nahen Ostens tätig sind, unter Verdacht, terroristische Organisationen zu unterstützen. Hintergrund war teilweise eine mangelnde Transparenz hinsichtlich der Herkunft und Verwendung ihrer Mittel, vereinzelt wurde bei solchen Hilfswerken in Nachbarländern der Schweiz ein missbräuchlicher Einsatz von Spendengeldern nachgewiesen. Die grossen islamischen Hilfsorganisationen verpflichten sich aber darauf, einzig humanitäre Hilfe zu leisten und weisen ihre Aktivitäten transparent aus.

Schulsswort

Die Fürsorge für Bedürftige und der Einsatz für eine solidarische Gemeinschaft gehören zu den wichtigsten Botschaften des Islam. Während Geld- und Naturalienspenden bis vor wenigen Jahren vorzugsweise Zwecken im Ausland dienten, möchten sich Musliminnen und Muslime zunehmend verstärkt für Zwecke in der Schweiz engagieren.

Bibliografie
Literatur

Silvia Martens

Religions- und Islamwissenschaflichlerin, Silvia Martens ist Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern sowie Koordinatorin des Zentrums für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP) mit Standorten in Basel, Luzern und Zürich. In ihrer Forschung beschäftigte sie sich zuletzt mit religiöser Autorität und der Salafiyya in der Schweiz.

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