Organisation des Islam in der Schweiz aus genealogischer und chronologischer Perspektive

Die Organisation von Muslim:innen in der Schweiz stellt ein Fallbeispiel von internationalem Interesse dar, das die Komplexität der Dynamiken innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in einem Land mit einer wachsenden kulturellen Vielfalt veranschaulicht. Der Sammelband Islamic Organisations in Western Switzerland untersucht diese Komplexität (Banfi und Gianni 2023). Dieser Artikel stützt sich auf die Daten aus diesem Werk und bietet eine genealogische und chronologische Analyse der Entstehung muslimischer Dachorganisationen in der Schweiz, sowohl auf Bundes- als auch auf Kantonsebene. Während die Forschung zu muslimischen Organisationen häufig einen typologischen Ansatz vorzieht, der auf ihre Handlungsrepertoires, ihre Referenzpopulation und ihre Organisationsstruktur fokussiert, nehmen wir eine genealogische und chronologische Perspektive ein. Dieser innovative Ansatz analysiert Ursprünge, Abstammungen, Übertragungen und Kontinuitäten zwischen den Verbänden, um Zusammenhänge, gegenseitige Einflüsse und das Teilen von Ressourcen zu beleuchten. So wird deutlich, wie die Gründung kantonaler Dachverbände – eine schweizerische Besonderheit – die Integration muslimischer Organisationen in den Rahmen des Zusammenlebens in der Schweiz gefördert hat. Denn um ihren religiösen Rechten Gehör zu verschaffen, haben sich Muslim:innen auf kantonaler Ebene organisiert.
Methodisch konzentrieren wir uns auf die Entwicklung der kantonalen Dachverbände, indem wir ihre Entstehung im Zusammenhang mit derjenigen anderer Organisationen betrachten, die versucht haben, Muslim:innen auf kantonaler, interkantonaler und eidgenössischer Ebene zu vertreten. Erstere umfassen in der Regel die muslimischen Vereine eines Kantons, während interkantonale Organisationen häufig nach der Herkunft ihrer Mitglieder, einer theologischen Strömung oder einer politisch-religiösen Bewegung organisiert sind. Wir legen den Fokus auf ihr chronologisches Erscheinen im öffentlichen Raum und auf die entscheidende genealogische Rolle der kantonalen Dachverbände bei der Bildung einer bürgernahen und repräsentativen islamischen Stimme von Muslim:innen in der Schweiz.
Die religiöse Regulierung seitens der Kantone hat Muslim:innen dazu veranlasst, multikulturelle Vereine zu gründen, die einen steten internen und externen Dialog fördern. Dieser komplexe Prozess erfordert eine Ausübung der demokratischen Rechte und eine Zusammenarbeit zwischen Muslim:innen unterschiedlicher Strömungen und mit diversen Traditionen. Die kantonalen Dachverbände in der Schweiz, die im europäischen Kontext einzigartig sind, haben so den Einfluss der Herkunftsstaaten auf das kultische und soziopolitische Leben der muslimischen Gemeinschaften abgeschwächt. Viele Studien haben den transnationalen Einfluss auf einzelne Verbände oder lokale Netzwerke untersucht (siehe Literaturverzeichnis). Die chronologische Analyse zeigt, dass die Notwendigkeit, kantonale Dachverbände zu schaffen, die Vereinslandschaft der muslimischen Organisationen in der Schweiz verändert hat. Diese Dachverbände, die sich durch ihre interne Vielfalt auszeichnen, ermöglichen es, die Interessen einer lokalen muslimischen Bevölkerung zu wahren. Dies steht im Gegensatz zu den interkantonalen sprachlich-kulturellen Dachverbänden, die eine geringere interne Vielfalt aufweisen und häufig stärker mit den Herkunftsländern verbunden bleiben.
Prämissen für die Organisation von Muslim:innen in der Schweiz (1980er- und 1990er-Jahre)
Im April 1981 kamen in der Schweiz erstmals Mitglieder verschiedener Gebetsräume und islamischer Vereine in Freiburg zusammen, um über die Schaffung einer Struktur auf Bundesebene nachzudenken, die die Aktivitäten von Muslim:innen im Land koordinieren sollte. Obwohl in den 1980er-Jahren einige versuchten, diese Idee zu konkretisieren, konnten nur wenige Ergebnisse erzielt werden. So entstand in diesem Jahrzehnt in Egerkingen (SO) der «Verein der islamischen Organisationen», dessen Hauptaufgabe darin bestand, Muslim:innen in der Deutschschweiz zu koordinieren.
Zudem wurden zwei Dachverbände von Vereinen gegründet, die auf ihr Herkunftsland, die Türkei, ausgerichtet waren: der Verband islamischer Kulturzentren (VIKZ) im Jahr 1979[1] und die Türkisch Islamische Stiftung für die Schweiz (İsviçre Türk Diyanet Vakfı, TISS) im Jahr 1987[2]. Erst 1992, als bosnische Geflüchtete in die Schweiz kamen, entstand die erste multinationale föderale Plattform der islamischen Vereine des Landes. Als Reaktion auf den Bosnienkrieg taten sich im August 1992 rund 45 muslimische Vereine in der Schweiz zusammen und bildeten die Plattform «Hilfsorganisation für bosnische Flüchtlinge», die bis 1996 aktiv blieb[3] (Banfi und Gianni 2023). In dieser Gründungsphase beteiligten sich einige Vereine, getragen vom Engagement ihrer Vorstände, an der Gründung der Hilfsorganisation für bosnische Flüchtlinge. Sie erarbeiten ein gemeinsames Projekt über Identitäts- und Kulturgrenzen hinaus, indem sie in der Schweiz Wohltätigkeitsveranstaltungen zugunsten bosnischer Geflüchteter organisieren und gleichzeitig deren Integration in der Schweiz erleichtern.
Gleichzeitig nehmen mononationale Dachverbände, wie die der türkischen Gemeinschaften, klassischere Strukturen an, die hauptsächlich auf der Aufrechterhaltung und der Stärkung der Verbindungen zum politischen Leben in den Herkunftsländern ausgerichtet sind. Diese beiden Ansätze – der eine interkulturell und lokal, der andere mit einem stärkeren Fokus auf transnationalen Verbindungen – werden im Laufe der Geschichte der Organisation von Muslim:innen in der Schweiz nebeneinander existieren, miteinander verbunden sein und sich gegenseitig beeinflussen.
Diversifizierung der repräsentativen Strukturen
Ab Mitte der 1990er-Jahre erhielt die Organisation von Muslim:innen in der Schweiz neuen Auftrieb durch die Entstehung der ersten kantonalen Verbände mit der Gründung der Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) im Jahr 1995 und der Basler Muslim Kommission (BMK) im Jahr 1997. Diese Vereine orientieren sich effektiv eher am Einwanderungsland Schweiz als an den Auswanderungsländern der Gläubigen. Sie werden insbesondere gegründet, um die Beziehungen zu den kantonalen Behörden in Fragen wie konfessionellen Gräberfeldern und muslimischen Gräbern zu pflegen und die soziokulturelle Integration der Gläubigen zu verbessern. Den Beispielen von Zürich und Basel folgten im Jahr 2000 die Gründung der Union des Associations Musulmanes de Fribourg (UAMF) und 2002 diejenige des Verbands Islamischer Organisationen des Kantons Luzern (VIOKL), der vor Kurzem in Islamische Gemeinde Luzern (IGL) umbenannt wurde. Auch in Kantonen mit wenigen Muslim:innen entstehen Strukturen, indem Ressourcen gebündelt werden, wie der Dachverband Islamischer Gemeinden der Ostschweiz und des Fürstentums Liechtenstein (DIGO) im Jahr 2003, in dem muslimische Vereine aus mehreren Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein zusammengeschlossen sind. 2004 wurden in zwei Kantonen mit einer grossen muslimischen Bevölkerung der Verband Aargauer Muslime (VAM) und die Union Vaudoise des Associations Musulmanes (UVAM) gegründet, was den Aufbau starker Partnerschaften mit den kantonalen Behörden erforderte. Die Westschweiz holte mit der Gründung der Union des Organisations Musulmanes de Genève (UOMG) im Jahr 2006 und der Union Neuchâteloise des Organisations Musulmanes (UNOM) im Jahr 2007 auf.
Die chronologische Analyse zeigt somit eine anhaltende Spannung zwischen zwei Dynamiken: die der lokal verankerten und nach dem schweizerischen Kantonsmodell organisierten Vereinigungen und die Dynamik der Organisationen, die eine transnationale Identität bevorzugen und ihre Verbindungen zu den Herkunftsgemeinschaften oder -staaten verstärken. Diese Spannung spiegelt die Komplexität der Integration von Muslim:innen im Schweizer Kontext wider. Einige Vereine, hauptsächlich türkische, albanische oder bosnische, bleiben transnationalen Strukturen angeschlossen, orientieren sich aber an die Vereinsdynamik auf kantonaler Ebene. Sie agieren als kollektive Akteure und folgen einer neuen Logik, die über die blosse Beziehung zum Herkunftsland hinausgeht. Sie lernen, nach den politischen Kodizes der Schweiz zu funktionieren, indem sie demokratische Beziehungen innerhalb der kantonalen Dachverbände und zu den lokalen Behörden aufbauen. Dieser Prozess trägt dazu bei, neue Mentalitäten zu formen, und fördert neue Organisationspraktiken, die auf eine lokale und institutionelle Integration ausgerichtet sind, die auf den Schweizer Kontext abgestimmt ist. Es sei darauf hingewiesen, dass innerhalb der kantonalen Dachverbände ein Teil der Schlüsselrolle nach wie vor von Personen aus der Generation der Ersteinwanderer ausgeübt wird, die oft noch starke Verbindungen zu den Herkunftsländern pflegen. Das Aufkommen von Schlüsselpersonen aus der zweiten und dritten Generation lässt jedoch darauf schliessen, dass sich dieses Spannungsfeld in den Organisationen allmählich abschwächen wird.
Beteiligung der kantonalen Verbände auf die Schaffung eines einzigen nationalen Dachverbandes
Die Gründung der kantonalen Dachverbände hat als Inkubator für die Entwicklung einer erfahrenen Leitung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in der Schweiz eine entscheidende Rolle gespielt und die Schaffung einer repräsentativen föderalen Organisation auf nationaler Ebene beeinflusst. 2005 wurde aus dem Verein der islamischen Organisationen die Koordination islamischer Organisationen Schweiz (KIOS). Trotz der Bestrebungen, kantonale und interkantonale Verbände einzubeziehen, haben Meinungsverschiedenheiten über Beitrittsmodalitäten und den Grad der Autonomie der einzelnen Organisationen den Beitritt vieler Organisationen gebremst. Die meisten kantonalen Dachverbände haben daraufhin beschlossen, sich zur Föderation islamischer Dachorganisationen Schweiz (FIDS) zusammenzuschliessen. Die Gründung der FIDS erfolgte auch vor dem Hintergrund der Umstrukturierung und der Weiterentwicklung der interkantonalen sprachlich-kulturellen Vereine. 2005 wurde der Albanisch Islamische Verband (AIV)[4] gegründet. Gleichzeitig verstärkt der bosnische Verein Islamische Gemeinschaft Bosniaken (IGB) seine Rolle als interkantonale Koordinationsstelle. Beide Organisationen traten 2006 der FIDS bei.
Die FIDS agiert somit als übergeordnete Organisation. Sie ermöglicht es ihren Mitgliedsverbänden, ihre Beteiligungzu verstärken, indem sie sie bei Institutionen auf Bundesebene vertritt, insbesondere im interreligiösen Dialog, bei eidgenössischen Vernehmlassungen zu Fragen rund um die Radikalisierung oder den Gesundheitsvorschriften während der Covid-19-Pandemie. Die FIDS begleitet die Kantone auch bei der Ausgestaltung neuer Dachverbände, wie 2020 in Bern mit der Gründung des Islamischen Kantonalverbands Bern (IKB) und in Solothurn mit der Gründung des Islamischen Kantonalverbands Solothurn (IKSO) im Jahr 2023. Diese neuen Strukturen zeichnen sich dadurch aus, mit den kantonalen Institutionen interagieren und gleichzeitig von dem durch die FIDS vermittelten Know-how profitieren zu wollen.
Dank einer internen Leitung, die die Autonomie der kantonalen und interkantonalen Dachverbände respektiert, vereint die FIDS eine wachsende Zahl von Organisationen und behauptet sich als die nachhaltigste und repräsentativste föderale Struktur der Muslim:innen in der Schweiz.
Fazit
In der Schweiz hat die Notwendigkeit, sich auf kantonaler Ebene zu organisieren, um sich bei den Behörden Gehör zu verschaffen, die Fähigkeit der muslimischen Organisationen gestärkt, sich an den institutionellen Rahmen des Landes zu orientieren und sich in den lokalen soziopolitischen Kontext zu integrieren. Der chronologische Ansatz hat es erlaubt, die kantonalen und interkantonalen Dachverbände als eine Landschaft zu überdenken, die innerhalb von zwanzig Jahren ein Gleichgewicht aufgebaut hat, das weitgehend mit dem politischen System der Schweiz vernetzt ist. Die für die Schweiz typische Entstehung kantonaler Dachverbände hat die externen Einflüsse abgeschwächt, indem sie eine Dynamik des lokalen Konsenses durchgesetzt hat. Muslim:innen unterschiedlicher Herkunft haben kooperiert, um repräsentative Strukturen zu schaffen, die auf die einzelnen Kantone zugeschnitten sind. Die FIDS, die von einem Grossteil der muslimischen Verbände in der Schweiz angenommen wurde, spiegelt dieses Gleichgewicht auf Bundesebene wider, indem sie die kantonale Autonomie respektiert und gleichzeitig den Konsens fördert. Sie zeugt von einer einmaligen Geschichte, in der die Ausgestaltung der muslimischen Organisationen eine einzigartige Anpassung an die politischen und sozialen Besonderheiten des Landes widerspiegelt. Obwohl sich der Einfluss ausländischer Staaten noch nicht vollständig abgeschwächt hat, stellt die demokratische Dynamik der kantonalen und interkantonalen Dachverbände ein wertvolles Gegenmittel dar, das dem politischen System der Schweizerischen Eidgenossenschaft angemessen ist.
[1] Die Wurzeln des VIKZ gehen auf die Lehren von Süleyman Hilmi Tunahan Efendi (1888–1959) innerhalb des sunnitisch-hanafitischen Islams in der Türkei zurück. In der Schweiz zählt der VIKZ derzeit fünfzehn angeschlossene Moscheen.
[2] Die TISS (Schweizer Sektion von Diyanet), die das türkische Direktorat für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) vertritt, spielt eine wesentliche Rolle bei der Ausgestaltung des türkischen Islams in der Schweiz. Die Diyanet wurde 1924 in der Türkei gegründet und ist eine öffentliche Institution, die dem türkischen Staat unterstellt ist. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die religiösen Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem sunnitischen Islam in der Türkei und in der türkischen Diaspora auf der ganzen Welt zu beaufsichtigen. Diese 1987 unter dem Namen Türkisch Islamische Stiftung für die Schweiz (İsviçre Türk Diyanet Vakfı) gegründete Organisation fungiert als Dachorganisation für rund fünfzig Vereine und Moscheen im ganzen Land (Schneuwly Purdie und Tunger-Zanetti, 2022).
[3] Dia Eddine, Khaldoun. Gründungsmitglied der Plattform Hilfsorganisation für bosnische Flüchtlinge, im Interview mit Elisa Banfi am 17. Mai 2023.
[4] Diese erste albanischsprachige Dachorganisation fusionierte 2020 mit einer anderen Struktur, die albanische Imame umfasste, und es entstand der Dachverband der albanisch-islamischen Gemeinschaften in der Schweiz (DAIGS).
Bibliografie
Literatur
- Banfi, E., et Gianni, M. (Eds.). (2023). Islamic Organisations in Western Switzerland. Actors, Networks, and Socio-Cultural Activities. Seismo.
Zur Vertifeung
Literatur
- Banfi, E. (2023). The Islamic Organisations in Switzerland: An Historical Overview. In Banfi, E., & Gianni, M. (Eds.). Islamic Organisations in Western Switzerland. Actors, Networks, and Socio-Cultural Activities. Seismo, 33-58.
- Banfi, E. (2024). “Il riconoscimento istituzionale delle comunità religiose e i processi di costruzione identitaria delle comunità islamiche in Svizzera e in Italia. Il caso delle comunità islamiche albanofone” MEETING UNIVR PRIN 17 – 18 ottobre 2024 “Islam and Muslims in Italy: Actors, Social Space and Relations between Religious Communities and the State”, Université de Verona. (Publication forthcoming)
- Schmid, H., Trucco, N., & Biasca, F. (2022). Swiss Muslim Communitites in Transnational and Local Interactions. Public Perceptions, State of research, Case Studies (SZIG/CSIS-Studies 7). Centre Suisse Islam et Société.
- Schneuwly Purdie, M., & Tunger-Zanetti, A. (2023). Switzerland. Country report 2021. In S. Akgönül, J. Nielsen, A. Alibasic, S. Müssig, & R. Egdunas (Éds.), Yearbook of Muslims in Europe (Brill, Vol. 14, p. 667‑683).
- Schneuwly Purdie, M., & Tunger-Zanetti, A. (2025). Switzerland. Country report 2023. In A. Alibasic, D. Bauer, S. Müssig, & R. Egdunas (Éds.), Yearbook of Muslims in Europe (Brill, Vol. 16, p. 661‑676).