Senegal – Schweiz: die Muriden-Bruderschaft

Die Bruderschaft der Muriden nimmt als besondere Sufi-Bruderschaft im Senegal eine äusserst wichtige wirtschaftliche und politische Stellung ein. Dieser Artikel geht auf die vielfältigen Formen der Präsenz dieser Bruderschaft im Senegal und in der Schweiz ein und beleuchtet dabei die religiösen, sozialen und transnationalen Dimensionen dieser Bruderschaftsbewegung.
Was ist die Muriden-Bruderschaft?
Der Sufi-Islam oder Sufismus wird in der Regel innerhalb einer Tarîqa praktiziert. Dieser arabische Begriff wird normalerweise mit «Bruderschaft» übersetzt, bedeutet wörtlich jedoch «der Weg». Innerhalb dieser Gruppierungen folgen die AnhängerInnen den Lehren spiritueller Meister, die sie in einen Weg der spirituellen Erhebung einführen. Die Bruderschaft der Muriden wurde 1883 von Ahmadou Bamba Mbacké (im Folgenden «Bamba») im Senegal gegründet. Heute wird die Zahl der Talibés (Muriden-AnhängerInnen), die dem Weg Bambas folgen, der von seinen männlichen Nachkommen und den von ihnen ernannten spirituellen Lehrern (Marabouts) fortgeführt wird, auf vier Millionen Menschen im Senegal und in Gambia, aber auch in der senegalesischen Diaspora geschätzt.
Zwar stellen die Muriden im Senegal keine Mehrheit, sie haben aber ein beträchtliches politisches Gewicht. Der ehemalige senegalesische Präsident Abdoulaye Wade (2000–2012) tat seine Treue zur Muriden-Bruderschaft lautstark kund. Obwohl der Senegal offiziell ein säkularer Staat ist, haben die politischen Instanzen des Landes – angefangen mit dem ersten senegalesischen Präsidenten nach der Erlangung der Unabhängigkeit, dem Katholiken Léopold Sédar Senghor (1960–1980) – ihre Beziehungen zu dieser Bruderschaft stets gepflegt.
Wer ist Ahmadou Bamba Mbacké, der Gründer der Bruderschaft?
Bamba wurde 1853 in Mbacké-Baol geboren, das von seinem Grossvater gegründet worden war, und gehört einer Familie von muslimischen Gelehrten an. Als Eingeweihter des Sufi-Ordens Qadiriyya gründete Bamba im Alter von 30 Jahren die Bruderschaft der Muriden. Der folgende spirituelle und materielle Grundsatz ist für die Bruderschaft zentral: «Arbeite, als müsstest du niemals sterben, und bete, als stürbest du morgen.» Ebenfalls im Mittelpunkt steht die Errichtung der heiligen Stadt Touba, deren Ort ihm in einer Vision offenbart worden sei. Ahmadou Bamba fand seine AnhängerInnen – abseits der Kolonialmacht – eher unter den Bauern als unter den Gelehrten im urbanen Umfeld.

Das einzige bekannte Foto von Ahmadou Bamba, das 1913 vor der Moschee in Diourbel aufgenommen wurde.
1980 erhob Bamba mit Ibrahima Fall einen seiner ergebensten Schüler zum Marabout. Dessen AnhängerInnen sind als «Baye Fall» bekannt und bilden eine sehr markante Untergruppe des Muridismus, vor allem wegen ihrer bunten Flickengewänder und ihrer Dreadlocks. Die äussere Erscheinung und das Verhalten der Baye Fall veranschaulichen das muridische Ideal der Demut und des Gehorsams gegenüber dem Marabout. Weil sich Bamba weigerte, mit der Kolonialverwaltung zusammenzuarbeiten, und weil diese gegenüber dem Erfolg von Bambas Modell Misstrauen hegte, schickte sie ihn mehrmals ins Exil: nach Gabun (1895–1902) und nach Mauretanien (1903–1907). Im Senegal (1907–1912) stand er schliesslich unter Hausarrest. Er starb 1927 friedlich in Diourbel und wurde in Touba beerdigt. Auf Bambas Initiative hin gedenken die Talibés seit 1921 seines Exils in Gabun, indem sie jedes Jahr am 18. Tag des Safar, des zweiten Monats des muslimischen Kalenders, in die heilige Stadt Touba pilgern. Diese Pilgerfahrt wird auch Magal genannt. Dieser Tag wird insbesondere deshalb gefeiert, weil Bamba an dem Tag eines seiner grössten Wunder vollbrachte: Als er sich auf dem Schiff nach Gabun befand, bat er darum, beten zu dürfen. Das wurde ihm jedoch verwehrt. Er springt daraufhin ins Wasser und landet auf einem Gebetsteppich, auf dem er betet, bevor er das Boot wieder besteigt. Diese Handlung veranschaulicht zudem die Art des gewaltlosen Widerstands, den Bamba gegen seinen Unterdrücker geleistet haben soll, und macht ihn in Afrika so zu einer Symbolfigur des Widerstands gegen die Kolonialisierung.
Welche religiösen Praktiken und Überzeugungen verfolgen die Muriden?
Die Muriden befolgen als MuslimInnen und wie die überwiegende Mehrheit der senegalesischen Bevölkerung die fünf Säulen des Islams, allerdings mit einigen Besonderheiten:
- Die Muriden rezitieren das Wie bei anderen Sufi-Bruderschaften sind Gesang und Tanz wichtige Elemente der religiösen Praxis. Die Talibés treffen sich in Dahiras (AnhängerInnenkreise), um zu singen, zu beten und religiöse Aktivitäten zu organisieren. Vor allem die Baye Fall praktizieren stundenlange Zeremonien zur Anrufung des Namens Allahs, bei denen die (in der Regel männlichen) Teilnehmenden in Trance verfallen können. Diese Zeremonien heissen auf Arabisch Zikrullah, oder allgemeiner Dhikr.

Bildschirmkopie aus einem Video, das während der «Zikr Tour Suisse» aufgenommen wurde, einer Veranstaltung, an der rund 250 Personen aus der Schweiz, Italien, Frankreich und dem Senegal Anfang November 2024 in einem Lausanner Gymnasium teilnahmen. Zu diesem Anlass aufgerufen hatten die Dahira Touba Lausanne Wakana Haqqan und der Verein And Jeffé Ndiguel Yi Baye Fall aus der Schweiz.
- Die Muriden – mit Ausnahme der Baye Fall, die davon befreit sind, weil sie sich ganz der Arbeit widmen – beten fünfmal am Tag. Bamba hat zahlreiche religiöse Schriften verfasst, die in den von Talibés besuchten Daaras (Koranschulen der Muriden) gelehrt werden. Schon als Kinder müssen Talibés für ihren Marabout arbeiten, um im Gegenzug eine religiöse Bildung zu erhalten, oder, falls dies nicht möglich ist, Almosen sammeln.
- Die Muriden, auch in diesem Fall sind die Baye Fall ausgenommen, fasten während des Monats Ramadan. Der Beginn des Fastenmonats wird durch die lokale Sichtung der Mondsichel angezeigt, wobei das Datum vom Generalkalifen der Muriden, dem höchsten Würdenträger der Bruderschaft, bestätigt wird. So passiert es häufig, dass die SenegalesInnen den Ramadan an unterschiedlichen Tagen beginnen, je nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Bruderschaft.
- Muriden unternehmen, wenn möglich einmal in ihrem Leben, eine Pilgerfahrt nach Mekka. Andere Pilgerfahrten werden von den Talibés jedoch bevorzugt, insbesondere nach Touba oder nach Porokhane, zum Gedenken an Bambas Mutter Mame Diarra Bousso. Neben diesen Anlässen müssen die Talibés ihre Marabouts häufig besuchen, um ihre Ergebenheit und ihre spirituelle Verbundenheit zu bekräftigen. Bamba und seine männlichen Nachkommen, die für ihre moralische Integrität und ihre Heiligkeit, die sich durch das Vollbringen von Wundern manifestiert, verehrt werden, besitzen und können die von Gott selbst übermittelte Baraka (arabisch für «Segen» oder «spirituellen Einfluss») weitergeben, die den Erfolg in allen spirituellen und materiellen Errungenschaften gewährleistet. Baraka ist auch eine Quelle der Heilung. Talibés können durch den physischen Kontakt mit ihrem Marabout Zugang zu Baraka
- Die Muriden verfolgen die Praxis von Almosen, insbesondere gegenüber ihren Marabouts und den Talibés, die die Daaras
Muridismus in der Schweiz
Den Zahlen des EDA zufolge sind gut 1500 SenegalesInnen in der Schweiz wohnhaft, meist in der Westschweiz. Die meisten SenegalesInnen zählt der Kanton Genf – sie sind in der Regel für Studienaufenthalte oder aus diplomatischen Gründen in die Schweiz gekommen.
In der Schweiz wie auch im Senegal heissen die muridischen Vereine Dahiras. In der Schweiz gibt es mehrere davon. In Genf trifft sich die Dahira Touba-Genève im Maison des Associations. Im Kanton Waadt versammelt sich eine Dahira mit rund 20 Personen im Haus eines senegalesischen Staatsbürgers[1]. Es wird davon ausgegangen, dass es in der Waadt etwa 150 Muriden-AnhängerInnen gibt[2]. Die Dahira Wakana Haqqan, die jeweils die «Zikr Tour Suisse» organisiert, gibt auf ihrer Website an, sich jeden Monat im Maison du Peuple in Lausanne zu treffen. Die Aktivitäten der Dahiras in der Schweiz sind – abgesehen von Ereignissen des religiösen Kalenders (wie dem Magal in Touba) – kaum sichtbar. Anhand der Facebook-Seite der Dahira Touba Genève lässt sich etwa feststellen, dass an einer religiösen Veranstaltung mehrere Dahiras aus den Städten Basel, Bern, Biel, Pruntrut, Neuenburg und Zürich teilnehmen. Die diskrete Existenz dieser Dahiras wird nur durch die Veröffentlichung einiger Videos auf YouTube[3] bestätigt. Der Flyer der Veranstaltung untermauert zudem ein Phänomen, das in anderen europäischen Ländern (insbesondere Frankreich, Italien und Spanien, wo eine grosse Zahl von Senegalesinnen und Senegalesen lebt) bereits bekannt ist: die Organisation von Besuchen von muridischen Marabouts bei ihren AnhängerInnen im Ausland. Beispielsweise von Mame Mor Mbacké Mourtada, dem Sohn von Serigne Mountakha Mbacké, dem Generalkalifen der Muriden, und Urenkel von Ahmadou Bamba.
Wie Sophie Bava (2003), Expertin für afrikanische Migration und die Transnationalisierung religiöser Praktiken, erklärt, führt der Migrationskontext zu einer Transformation der «Kontexte für den Austausch zwischen dem Talibé und der Hierarchie der Muriden», mit einer Entfremdung zwischen dem Talibé und seinem Marabout, die gewissermassen auf andere Art und Weise «kompensiert» werden muss, um die gleichzeitige Schwächung der spirituellen Bindung auszugleichen.
Der Besuch von Marabouts, der eine Zusammenkunft verschiedener Dahiras ermöglicht, ist eine seltene Gelegenheit für die AnhängerInnen, im Migrationskontext dank der Anwesenheit eines männlichen Nachfahren Bambas, der die Baraka mit sich führt, ein wenig daran teilzuhaben. Den muridischen Magistraten dienen die Besuche bei den Diasporagemeinden dazu, die Beziehungen zu einer senegalesischen Diaspora zu festigen, die sich sehr stark für das Sammeln von Spenden für die von der Bruderschaft geführten sozialen Projekte, insbesondere in Touba, engagiert. Wie Susana Moreno Maestro (2006) betont, liegt die Besonderheit des Muridismus darin, dass sich der Talibé freiwillig seinem Marabout unterwirft (jebëlu) – eine Verpflichtung, die über die rein spirituelle Dimension hinausgeht und eine aktive Beteiligung an der Entwicklung der Bruderschaft durch Arbeit und finanzielle Ressourcen einschliesst. In diesem Rahmen erscheint das Auswandern, insbesondere in die Schweiz, heute als eine zentrale Strategie.
[1] Centre intercantonal d’information sur les croyances (CIC), 2020, Credo.Une cartographie de la diversité religieuse vaudoise.
[2] Chloé Banerjee-Din, (2019) La confrérie mouride se fait une place dans l’Islam vaudois, in: 24heures.
[3] Zum Beispiel https://www.youtube.com/watch?v=28Btf5A-wtw, gefilmt bei der Basler Dahira im Jahr 2022.
Bibliografie
Literatur
- Bava, S. (2003). De la « baraka aux affaires » : éthos économico-religieux et transnationalité chez les migrants sénégalais mourides. Revue européenne des migrations internationales 19 (2), en ligne.
- Copans, J. (2000). Les marabouts de l’arachide. L’Harmattan.
- Moreno Maestro, S. (2006). Le mouridisme au sein de l’immigration sénégalaise : agent de développement : le cas de l’Andalousie. Les Cahiers du Gres 6(1) : 93-110.
Zur Vertiefung
- Babou, C.A. (2011). Le Jihad de l’âme. Ahmadou Bamba et la fondation de la Mouridiyya au Sénégal (1853-1913). Éditions Karthala.Pézeril, C. (2008). Islam, mysticisme et marginalité : les Baay Faal du Sénégal. L’Harmattan