Vielfalt muslimischer Praktiken und Überzeugungen in der Schweiz

Ricarda Stegmann, Universität Freiburg, 2020

Verschiedene Glaubensrichtungen

Musliminnen und Muslime in der Schweiz bilden keine homogene Gemeinschaft, sondern leben eine grosse Vielfalt an muslimischen Auslegungen und Verhaltensregeln. Das breite Spektrum an Interpretationen und Praktiken hat seinen Ursprung zunächst in den grossen Glaubensrichtungen, denen Musliminnen und Muslime auch weltweit zugeordnet werden: den sunnitischen, schiitischen, alevitischen sowie weiteren Formen des Islam.

Verlässliche Zahlen dazu, wie viele Musliminnen und Muslime in der Schweiz diesen Richtungen angehören, existieren nicht. Grobe Schätzungen berücksichtigen unter anderem die prozentuale Verteilung von Sunniten, Schiiten oder Aleviten in den Herkunftsländern und übertragen diese Aufteilung auf die in der Schweiz lebenden Musliminnen und Muslime aus den entsprechenden Ländern. Demnach leben in der Schweiz ca. 85% Sunniten, 7% Schiiten, 7% Aleviten sowie Anhängerinnen und Anhänger kleinerer Minderheiten wie beispielsweise der Ahmadiyya (vgl. Schneuwly Purdie & Tunger-Zanetti, 2023, S. 678).

Zwei Aspekte müssen im Zuge dieser Zuordnung zu Glaubensrichtungen bedacht werden: Zum einen die Tatsache, dass Musliminnen und Muslime höchst unterschiedliche Entscheidungen darüber treffen, welche religiösen Vorschriften, Praktiken, Rituale und Glaubenssätze sie als sinnvoll erachten und tatsächlich umsetzen. In der Schweiz praktiziert Einschätzungen von Expertinnen und Experten zufolge nur eine Minderheit der Musliminnen und Muslime, die von sich sagen gläubig zu sein, ihre Religion im Alltag (vgl. ESRK, 2014).

Zum anderen die in der Realität noch weitaus höhere Komplexität von Zugehörigkeiten: so können Sufis zugleich sunnitisch, schiitisch oder unabhängig von beidem sein; der schiitische Islam weist weltweit sowie auch in der Schweiz verschiedene Unterströmungen auf und innerhalb der sunnitischen Tradition zeigen sich zahlreiche interne Konfliktlinien sowie auch die Entstehung spezifischer, zum Beispiel ideologischer und/oder politisierter Strömungen.

Sunnitinnen und Sunniten

Mit 85% sind die grosse Mehrheit der Musliminnen und Muslime sowie auch der muslimischen Organisationen in der Schweiz sunnitisch. Die Bezeichnung «Sunniten» leitet sich vom arabischen Begriff Sunna her: Die Sunna (wörtlich «Brauch, Handlungsweise») bezeichnet die Gesamtheit der richtungsweisenden Aussagen und Taten des Propheten Muhammad und ist für Sunniten nach dem Koran die zweite zentrale Quelle des religiösen Norm- und Regelwerkes.

Im Zentrum sunnitischer Lehren und Praktiken stehen der Glaube an einen einzigen Gott  (im arabischen: Allah), an Muhammad als dem letzten Propheten, der den Menschen gesandt wurde, an den Koran als letzte und unverfälschte Offenbarung Gottes, das Jüngste Gericht sowie die fünf von jedem Muslim und jeder Muslimin zu verrichtenden Säulen: 1. Das Glaubensbekenntnis (schahada), 2. das fünfmal tägliche Pflichtgebet (salat), das Fasten während des Monats Ramadan, die soziale Pflichtabgabe (zakat) sowie die Pilgerfahrt nach Mekka (hadsch). In der sunnitischen Tradition haben sich zur Auslegung islamischer Normativität und Gesetzlichkeit vier Rechtschulen herausgebildet, die in verschiedenen Ländern jeweils unterschiedlich stark verbreitet sind: die malekitische (z.B. Maghreb), hanafitische (z.B. Türkei und Balkanländer), hanbalitische (z.B. Saudi-Arabien) und schafiitische (z.B. Ägypten oder Indonesien).

Schiitinnen und Schiiten

Schiitinnen und Schiiten machen 7% aller Musliminnen und Muslime in der Schweiz aus und stammen hauptsächlich aus dem Iran und Afghanistan. In der Schweiz gibt es rund zehn schiitische Moscheen.

Schiitinnen und Schiiten verehren insbesondere Ali als den ersten rechtgeleiteten Nachfolger Muhammads und folgen neben dem Koran und der Sunna des Propheten mehrheitlich auch den für sie unfehlbaren Aussagen der ersten zwölf Imame (Zwölferschiitischer Islam). Schiitische Musliminnen und Muslime pilgern nicht nur nach Mekka, sondern auch nach Kerbela im Irak; zu dem Ort, an dem im siebten Jahrhundert n. Chr. der von ihnen verehrte Prophetenenkel Hussein von feindlichen Heeren getötet wurde. Neben den fünf Säulen, die in den schiitischen Richtungen ähnlich interpretiert werden wie in den sunnitischen, sind die sogenannten Ashura-Rituale ein wichtiges Zentrum und Spezifikum der schiitisch-religiösen Praxis: Während dieser einmal im Jahr stattfindenden Rituale werden der Märtyrertod Husseins und seiner Anhänger bedacht und beklagt.

Alevitinnen und Aleviten

Vermutlich sind ca. weitere 7% der Musliminnen und Muslime in der Schweiz Alevitinnen und Aleviten. Diese Personen kommen zumeist aus der Türkei, wo die grosse Mehrheit der alevitischen Gemeinschaften beheimatet ist. Viele Alevitinnen und Aleviten betrachten ihre Tradition als vom Islam unabhängige Religion, andere verstehen sie als eigenständige Konfession innerhalb des Islam und wieder andere sehen sie als Teil des Schiitentums. Alevitinnen und Aleviten glauben an einen Schöpfergott, an die Vollendung des Menschen, die sich unter anderem durch das Praktizieren humanistischer Werte vollzieht, und an Muhammad als den letzten Propheten. Ähnlich wie Schiitinnen und Schiiten lassen sie auch Muhammads Cousin Ali eine hohe Verehrung zu Teil werden. Den Koran lesen Alevitinnen und Aleviten zumeist als einen historischen Text. Die Idee eines islamischen Rechtes, das zum Beispiel das Praktizieren der fünf Säulen vorschreibt oder Kleidungs- und Essensvorschriften macht, lehnen sie ab. Statt in Moscheen treffen sich Alevitinnen und Aleviten in sogenannten Cem-Häusern: Das Cem ist eine wichtige religiöse Versammlung mit Gedichtrezitation, rituellem Tanz sowie Unterweisungen in türkischer Sprache. In Glaubenssätzen und Praxis bestehen so grosse Unterschiede zu sunnitischen und schiitischen Auslegungen, dass Alevitinnen und Aleviten von schiitischen und sunnitischen Musliminnen und Muslimen oftmals als nicht zum Islam zugehörig betrachtet werden.

Andere Glaubensrichtungen

Ein kleiner Teil der Musliminnen und Muslime in der Schweiz gehört weiteren islamischen Glaubensrichtungen an. So finden sich unter ihnen zum Beispiel einige Anhängerinnen und Anhänger der Ahmadiyya, einer transnationalen Bewegung, deren Zugehörigkeit zum Islam von vielen Musliminnen und Muslimen nicht anerkannt wird. Andere praktizieren unterschiedliche Spielarten des Sufismus. Hierbei handelt es sich um einen innerlichen Zugang zum Islam, der in den in der Schweiz existierenden Gruppierungen entweder als Teil des sunnitischen Islam oder auch als vom Islam unabhängige Spiritualität betrachtet wird.

Die vier sunnitischen Rechtschulen

Die hohe Diversität an muslimischen Auslegungen und Lebensweisen in der Schweiz kommt nicht nur durch die Zugehörigkeit zu den oben genannten Glaubensrichtungen zustande. Ein weiterer Faktor für unterschiedliche Praktiken und Regelwerke ist beispielsweise die Existenz vier verschiedener Rechtschulen im sunnitischen Islam. So gehören Musliminnen und Muslime aus den Maghreb-Ländern meist der dort vorherrschenden malekitischen Rechtschule an, jene aus der Türkei und den Balkanländern folgen hingegen der in ihren Ländern verbreiteten hanafitischen Tradition. Die heute in der Praxis existierenden Unterschiede zwischen den Rechtschulen sind gering. Details in der Ausführung der fünf Säulen, aber auch Vorgaben im Bereich der Eheführung, Familienorganisation oder anderen alltagsrelevanten Bereichen können in gewissen Punkten voneinander abweichen.

Die Umsetzung des Islam im Herkunftsland

Weitaus wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer der Rechtschulen ist jedoch die Art und Weise, wie diese Rechtstraditionen im jeweiligen Herkunftsland implementiert und interpretiert werden. So sind Musliminnen und Muslime aus Bosnien, Albanien oder dem Kosovo an eine säkulare Gesetzgebung gewöhnt. Die vielfältigen Vorgaben des islamischen Rechts, beispielsweise bezüglich Heirat, Scheidung, Adoption oder Aufteilung des Familienerbes, sind ihnen teils kaum noch bekannt oder ohne praktische Relevanz. Im Nahen Osten und dem Maghreb hingegen sind diese islamischen Normen nicht nur auf verschiedene Weisen in die nationalen Gesetzgebungen integriert, sondern auch Gegenstand intensiver gesellschaftlicher Debatten. Musliminnen und Muslime aus diesen Herkunftsländern sind folglich viel umfassender mit der islamischen Rechtstradition konfrontiert und positionieren sich auch in der Schweiz zu ihnen: Sie vertreten dann entweder eine dezidierte Ablehnung der islamischen Vorgaben, oder sie suchen nach Möglichkeiten, sie im Rahmen des in der Schweiz gesetzlich Erlaubten umzusetzen, was eine von Schneuwly Purdie & Stegmann (2018) durchgeführte Studie zur Umsetzung islamischer Erbrechtsvorgaben durch Musliminnen und Muslime in der Schweiz aus dem Jahre 2018 deutlich machte (vgl. ebd., S. 10).

Zum Schluss

Schliesslich darf der Einfluss kultureller und individueller Gewohnheiten auf die Gestaltung der Lebensweise von Musliminnen und Muslimen in der Schweiz nicht unterschätzt werden. Religiöse Rituale, Feste, Überzeugungen und Verhaltensweisen sind immer auch von soziokulturellen, politischen und gar ökonomischen Bedingungen geprägt und mischen sich nicht selten mit nichtislamischen – kulturellen, gewohnheitsrechtlichen oder anderen – Praktiken. Geprägt durch die Situation in den Herkunftsländern unterscheidet sich die Ausgestaltung muslimischen Lebens in der Schweiz folglich auch in solchen Aspekten.