DIE VIELFALT DES SUFISMUS IN DER SCHWEIZ
Ricarda Stegmann, Universität Fribourg, 2024
Was ist Sufismus?
Sufismus (arab. taṣawwuf) ist fast so alt wie der Islam selbst und hat über die Jahrhunderte hinweg in fast allen islamischen Ländern eine bedeutende Rolle gespielt. Das in Europa dominierende Verständnis als «mystischer Dimension» des Islam ist missverständlich, weil Mystik im heutigen Sprachgebrauch einen Rückzug aus Politik, Wirtschaft und sozialem Engagement impliziert, während Sufilinien in vielen Kontexten eine wichtige politische, sozio-ökonomische und sogar militärische Bedeutung zukam. Es ist jedoch richtig, dass Sufis der inneren Entwicklung und Suche Gottes einen besonderen Stellenwert zuweisen. Typisch ist die Rede davon, das niedere Selbst (arab. nafs), oder Ego, kontrollieren zu wollen, das sich in negativen Eigenschaften ausdrücke und von der Nähe Gottes fernhalte. Die meisten Sufis betrachten es als notwendig, einem Sufi-Scheich zu folgen, dem sie sich durch eine Art Treueschwur (arab. baiʿa) anschliessen. Sie sind dann Mitglied einer spezifischen Sufi-Linie (arab. ṭarīqa, wtl. = Weg, Pfad, im Deutschen auch oft als Sufibruderschaft wieder gegeben). Die prominenteste Sufi-Praxis ist das Gottesgedenken (arab. dhikr) – eine Art Meditation, innerhalb derer Koransuren, Namen Gottes oder spezifische, vom Scheich formulierte Texte repetiert werden. Sufi-Gruppen existieren innerhalb des sunnitischen sowie auch des schiitischen Islam.
Sufismus in der Schweiz
In der Schweiz bilden Sufis nur einen kleinen Teil der Musliminnen und Muslime und weil sie sich zudem meist diskret und informell organisieren, sind sie in Schweizer Medien und öffentlichen Debatten kaum präsent.
Sufis in der Schweiz sind in ganz verschiedenen Sufilinien organisiert: Von solchen, die eine vom Islam losgelöste universale Spiritualität praktizieren und hauptsächlich nicht-muslimische Europäerinnen und Europäer anziehen über solche, die islamische Praxis mit vereinfachten Sufi-Ritualen kombinieren und neben im Islam Geborenen viele Konvertierte zählen bis hin zu jenen, deren islamische und Sufi-Praxis stark an den Herkunftsländern orientiert ist und fast ausschliesslich immigrierte Personen und ihre Nachkommen anspricht. All diese Gruppen treffen sich meist in privaten oder für ihre Versammlungen angemieteten Räumen.
Sufi-Praktiken können aber auch diskret in Moscheen stattfinden, und schliesslich werden Sufi-Lehren in öffentlichen Vorträgen, Seminaren und an Kulturabenden auch einem nicht-muslimischen Publikum nahegebracht (zum Beispiel während der von Mevlevi-Scheich Peter Cunz in Flüeli-Ranft oder vom Sufi-Intellektuellen Faouzi Skali in den Regionen Genf, Gruyères oder Fribourg organisierten Veranstaltungen).
Basierend auf meiner Forschung zum Sufismus in Europa soll im Folgenden das Spektrum der wichtigsten in der Schweiz präsenten Sufilinien aufgezeigt und ein Einblick in Anhängerzahlen, Versammlungsorte, Aktivitäten und Besonderheiten gegeben werden.
Die Zahl der Sufis in der Schweiz ist schwer bestimmbar: Nach meinen Schätzungen dürfte die Anzahl an Personen, die regelmässig in Gruppen praktizieren, nicht höher als bei 200-300 Personen liegen. An grossen Sufifesten oder wichtigen Anlässen nehmen jedoch bisweilen mehr Personen teil und die Anzahl an Anhängerinnen und Anhängern, die in ihren Herkunftskontexten in eine Sufilinie initiiert wurde, den Sufismus jedoch gar nicht praktiziert, liegt vermutlich noch höher.
Alawiyya
Die Alawiyya wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Algerier Ahmad al-Alawi (1874-1934) gegründet und hat ihren Schwerpunkt bis heute in Algerien. Aktueller Scheich ist Al-Alawis Urenkel Khaled Bentounès (1949-). In der Schweiz ist die Bewegung seit den 1930er Jahren bekannt. Die Mehrheit der circa 50 initiierten Mitglieder lebt in der Romandie und ist zum Islam konvertiert, gefolgt von muslimischen Personen mit Herkunftsgeschichte im Maghreb.
Die Alawis treffen sich einmal im Monat in einem protestantischen Pfarrhaus in Morges zu dhikr sowie Austausch über Sufi-Texte. Neben ihren spirituellen Aktivitäten sind sie als Association Internationale Soufie Alawiyya (AISA) organisiert (https://aisa-suisse.ch, Mitglied der NGO AISA internationale). Die Alawiyya engagiert sich dezidiert in Form von Dialog-, Friedens-, Umwelt- und Bildungsinitiativen.
Der Sufismus der Alawiyya ist klar im Islam verankert. Die Bewegung ist jedoch offen gegenüber Personen anderer Glaubensrichtungen und letztere sind ebenfalls in den Gruppen aktiv.
Naqshbandiyya Aliyya (auch Naqshbandiyya Haqqaniyya)
Die Naqshbandiyya Aliyya ist die grösste Sufibewegung in Europa und folgt dem Zyprioten Muhammad Nazim Adil al-Haqqani (1922-2014), der von seinen Anhängerinnen und Anhängern bis heute hochverehrt wird. Sein Nachfolger ist Scheich Muhammad Adil (1957-). In verschiedenen Kantonen leben insgesamt etwa 50 Anhängerinnen und Anhänger, die Zahl der aktiv in den Gruppen engagierten Mitglieder liegt vermutlich tiefer. Naqshbandi-Gruppen treffen sich in Basel und der Region Aarau; aber auch in Appenzell, St. Gallen, Genf und der Region Fribourg werden dhikr organisiert, die mehr oder weniger regelmässig stattfinden. Einmal im Jahr findet in der Nähe der Wirkungsstätte des katholischen Heiligen Nikolaus von Flüe in Flüeli-Ranft ein Retreat mit Scheich Muhammad oder anderen Naqshbandi-Vertretern statt.
Der Islambezug sowie die Ausführung der islamisch-rechtlichen Regeln sind wichtig, Nicht-Musliminnen und -Muslime sind jedoch als Teilnehmende willkommen. Die Naqshbandiyya betont die Orientierung am Scheich sowie die Notwendigkeit, sein eigenes Ego (nafs) zu bekämpfen, besonders stark.
Mevlevi
Die Mevlevi gehen auf den persischen Mystiker Dschalal al-Din Muhammad Rumi (1207-1273) zurück. In der Mevlevi-Tradition ist das in Europa oft als „Derwischtanz“ bezeichnete sema-Ritual beheimatet, während dessen die sogenannten semazen unter Leitung des Scheichs in weissen Gewändern (tennure) um die eigene Achse drehen und hierdurch Zugang zu Gott suchen. In Europa schliessen sich viele Mevlevi-Scheichs dem als Internationale Mevlana-Stiftung mit Sitz in Istanbul registrierten Orden unter der Leitung des sogenannten Gross-Çelebi Fâruk Efendi an, während andere Mevlevi-Gruppen unabhängig agieren. In der Deutschschweiz existiert seit den 1990er Jahren eine Mevlevi-Gruppe mit circa 10 initiierten und 15 weiteren Mitgliedern, die von Scheich Peter Hüseyin Cunz geleitet wird und der Internationalen Mevlana-Stiftung angehört (https://www.mevlana.ch). Die Gruppe, bestehend aus Konvertierten, Nicht-Konvertierten sowie im Islam Geborenen, trifft sich in einem Gesundheitszentrum in Schlieren einmal wöchentlich zum dhikr sowie zu Lektüre und Gespräch über das grosse Lehrwerk Rumis, das Mesnevi. Viermal im Jahr wird in der Citykirche Offener St. Jakob in Zürich das sema-Ritual für die Öffentlichkeit zugänglich durchgeführt.
Auch in der Mevlevi-Gruppe wird betont, dass der Sufismus im Islam verortet werden muss, doch viele Regeln des islamischen Rechts werden eher nicht befolgt.
Tijaniyya
Die Tijaniyya ist nach ihrem Gründerscheich Ahmad Ibn Muhammad Tijani (1737/38-1815) benannt. Die Tijaniyya breitete sich im Maghreb aus und ist zudem die grösste Sufilinie in Westafrika, mit Schwerpunkt im Senegal. In der Schweiz existieren in mehreren Kantonen Tijani-Gruppen, die sich informell organisieren. Die Anhänger und Anhängerinnen treffen sich in Privatwohnräumen zum gemeinsamen dhikr sowie einer kurzen Lehrunterweisung und stammen hautpsächlich aus dem Senegal, aber auch aus anderen subsaharischen Ländern und dem Maghreb. Unter den Mitgliedern finden sich ebenfalls einige wenige europäische Konvertiten. Falls Personen unterschiedlicher Herkunftskontexte anwesend sind, wird während der Zusammenkünfte französisch gesprochen. Informationen über die Anzahl der Anhängerinnen und Anhänger sind schwer zu erheben. Die Tijaniyya-Anhänger sind zumeist Musliminnen und Muslime und folgen den islamischen Riten (Quelle für diesen Absatz: Gespräch mit Baptiste Brodard, Centre interncantonal d’information sur les croyances).
Muriden
Die Muriden sind eine weitere afrikanisch geprägte Sufilinie, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Amadu Bamba (1853-1927) im Senegal ins Leben gerufen wurde. Die Muriden sind bis heute organisatorisch stark mit den senegalesischen Clanstrukturen verwoben und haben im Senegal einen sehr hohen politischen und wirtschaftlichen Einfluss. Religiöses Zentrum und Pilgerstätte ist die von Bamba 1887 im Westsenegal gegründete Stadt Touba. Hier herrscht seit 2010 der Enkel Bambas, Serigne Cheikh Maty Lèye (offiziell Serigne Scheich Sidi Mokhtar Mbacké), als Generalkalif der Muriden. Durch Arbeitsmigration gelangte die Sufilinie nach Europa. In der Schweiz treffen sich Muriden-Gruppen mit praktisch ausschliesslich senegalesischen Teilnehmenden in Basel, Biel, Lausanne und Genf. Die grösste aktive Gruppe ist in Genf beheimatet und als Association Touba Genève organisiert (https://toubageneve.ch). Rund 30 aktive Mitglieder versammeln sich hier regelmässig in der Maison des Associations um religiöse Gedichte zu lesen und gemeinsam zu essen (Gespräch mit Baptiste Brodard, CIC). Zudem werden Feste wie das bedeutende Magal Touba organisiert: der Tag, an dem Scheich Amadu Bamba ins Exil nach Gabun ging. Zu diesem Fest kommen bis zu 200 Anhängerinnen und Anhänger in Genf zusammen. Die Zusammenkünfte werden normalerweise in Wolof abgehalten (Gespräch mit Baptiste Brodard, CIC). Die Muridiyya versteht sich als einem liberalen Islam zugehörig, der aber mit zusätzlichen Elementen verknüpft wird: Typisch ist vor allem der Aufruf zu mit wichtiger religiöser Bedeutung versehener harter Arbeit.
Inayatiyya
Die Inayatiyya geht auf den Inder Hazrat Inayat Khan (1882-1927) zurück, der den Sufismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa und den USA als vom Islam losgelöste, universelle Spiritualität lehrte. Sein Enkelsohn, Zia Inayat Khan (1971-) führt seit 2004 den grössten Zweig von Hazrat Inayat Khans Sufiorden weiter, der sich seit 2016 offiziell Inayatiyya nennt. Die Bewegung war von Beginn an auf die Bedürfnisse eines „westlichen“ nicht-islamischen Publikums ausgerichtet. In der Schweiz liegt ihr Schwerpunkt im Sufi Zentrum Omega im Raum Zürich (https://www.sufismus.ch), wo regelmässig Sufi-Abende mit dhikr sowie Lektüren und Austausch zur Lehre der verschiedenen Ordensführer (pir) organisiert werden; darüber hinaus Sufi-Tanz, Traumarbeit und ein Heilkreis. Weitere Inayati-Gruppen treffen sich in Laufen, Bern und Besazio. Mehrtätige Retreats im Wallis, das bisher im Tessiner Olivone jährlich organisierte vierwöchige Sommercamp, das Mitglieder sowie Interessierte aus ganz Europa anzieht; sowie die Universellen Gottesdienste, in denen die grossen religiösen Traditionen geehrt werden, ergänzen die Aktivitäten der Inayatis. Die Bewegung hat in der Schweiz circa 130 eingeweihte Mitglieder. Sufismus wird als universelle Spiritualität ohne Verankerung im Islam gelebt.
Weitere Sufi-Aktivitäten
Zur Vertiefung
Literatur
Hermansen, M., Zarrabi-Zadeh, S. (2023): (Hg.) Handbook of Sufi Studies 154 (3). Sufism in Western contexts. Leiden et al.: Brill.
Malak, J., Zarrabi-Zadeh, S. (2019): (Hg.) Sufism East and West: Mystical Islam and cross-cultural exchange in the modern world. Leiden et al.: Brill.
Piraino, F., Sedgwick, M. (2019): (Hg.) Global Sufism: boundaries, structures, and politics. London: Hurst&Company.
Piraino, F. (2023): Le soufisme en Europe: Islam, ésotérisme et new age. Paris : Karthala.
Sedgwick, M. (2003): Sufism: the essentials. Cairo et al.: American University in Cairo Press.
Sedgwick, M. (2017). Western Sufism: from the Abbasids to the new age. New York: Oxford University Press.
Westerlund, D. (2004) (Hg.): Sufism in Europe and North America. London et al.: Routledge.