Disengagement und religiöser Wandel: Was geschieht nach einer Terrorismusverurteilung?

Wer wegen der Unterstützung einer islamistisch geprägten, als terroristisch eingestuften Organisation verurteilt wird, hat in der Regel zumindest einen gewissen Bezug zum Islam – sei es eine religiöse Zugehörigkeit oder eine politisch-ideologische Haltung. Seit der Jahrtausendwende wurden in der Schweiz 38 erwachsene Personen (30 Männer, 8 Frauen) vom Bundesstrafgericht wegen Unterstützung oder Beteiligung an einer terroristischen Organisation verurteilt (daneben gibt es noch eine unbekannte Anzahl an Verurteilungen per Strafbefehl und etwa ein Dutzend Verurteilungen durch die Jugendanwaltschaften). In allen Fällen ging es um Handlungen zugunsten dschihadistischer Gruppen wie Al-Qaida (AQ) oder des sogenannten Islamischen Staates (IS). Während in der allgemeinen Wahrnehmung islamistischer Terrorismus mit dem Islam in Verbindung gebracht wird, wissen wir sehr wenig darüber, wie es in diesem Deliktbereich verurteilte Menschen mit der Religion genau haben.
Das Religiöse ist vom Politischen nicht trennbar
In gesellschaftlichen, politischen, akademischen und juristischen Debatten steht oft die Frage im Raum, welche Rolle Religion oder Religiosität bei einer möglichen Radikalisierung spielen. Wie konnte es so weit kommen? Wann und wie radikalisierte sich eine Person? War sie überhaupt religiös? Nicht zuletzt, weil Attentäter ihre Gewalttaten oft selbst in einen religiösen Kontext stellen, hält sich die Annahme, Religion sei ein zentraler Faktor – oder gar, dass mehr Religiosität zwangsläufig zu mehr Radikalität und damit zu grösserer Gefahr führt.
Zu diesen Fragen hat die Forschung in den letzten Jahren spannende Erkenntnisse zutage gebracht. Klar ist: Im Bereich islamistischer Radikalisierung ist das Religiöse vom Politischen nicht trennbar.
Das religiöse Zugehörigkeitsgefühl kann Zugang zu einer kollektiven Identität geben, und dadurch eine Identifikation mit Situationen fördern, in denen Muslim:innen als leidende Partei wahrgenommen werden. Die religiöse Weltanschauung kann auch dazu führen, dass Konflikte eher als Religionskriege gelesen werden, oder als gezielte Angriffe auf Muslim:innen. Das Religiöse verleiht dem häufig riskanten Engagement zudem einen sakralen Charakter und eine gewisse Grandiosität und doktrinelle, religiöse Argumente können dazu dienen, Menschen zu überzeugen und zum Handeln zu bewegen.
Versicherheitlichung von muslimischem Leben und Aktivismus post-9/11
Gleichzeitig gibt es im Rahmen der Terrorismusbekämpfung orientalistische Denkmuster, welche zur Überhöhung der Rolle von Religion und Religiosität führen können. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Terrorismusstudien eine Tendenz zur Individualisierung und Depolitisierung des Phänomens aufweisen, weil eben Terrorismus ein politisch hochsensibles Thema ist: So werden geo- und soziopolitische Radikalisierungsfaktoren tendenziell ausgeblendet und religiös-ideologische Komponenten überbetont.
In diesem Zusammenhang kommt es im post-9/11-Kontext zu einer Versicherheitlichung muslimischen Lebens, wodurch bestimmte religiöse Ausprägungen oder Konversionen zum Islam als Vorläuferphänomene für extremistische Gewalt konstruiert und dadurch zum Gegenstand behördlicher Skepsis werden. In Einvernahmen oder vor Gericht werden Beschuldigte teilweise gefragt, welche Frauenbilder sie haben, ob sie Frauen die Hände schütteln, welches die fünf Säulen des Islam sind, wie sie zur Shari’a stehen, oder ob sie den Jihad befürworten. Dabei wird arabischen Begriffen und islamischen Konzepten mit einer reduktionistischen eurozentrischen Deutungshoheit begegnet: Unter Shari’a werden ausschliesslich körperliche Bestrafungen verstanden, unter dem Jihad das Töten von Ungläubigen, unter Hijra die Reise ins Hoheitsgebiet einer terroristischen Organisation.
Zudem hat sich in Sicherheitskreisen auch der Begriff der Taqiya etabliert: Das Konzept, welches es, je nach doktrineller Auslegung, verfolgten Gruppen erlaubt, den eigenen Glauben zu verheimlichen, um sich vor Zwang oder Lebensgefahr zu schützen, dient zur Legitimierung von institutionellem Misstrauen gegenüber beschuldigten Personen: Jegliche Distanzierung von der verbotenen Organisation, deren Gedankengut oder der Religion allgemein wird nicht als positive Entwicklung gewertet, sondern argwöhnisch beäugt, denn die Person könnte ja Taqiya betreiben.
Schliesslich findet die Terrorismusbekämpfung in westlichen Kontexten nicht in einem Vakuum statt, sondern in einem gesellschaftlich-politischen Kontext, welcher zumindest teilweise von anti-muslimischem Rassismus geprägt ist. Dabei wird im kollektiven Imaginär Terrorismus als primär islamistisch geprägt wahrgenommen und Muslim:innen und Islam werden medial übermässig im Zusammenhang mit Radikalisierung und Terrorismus problematisiert. Wegen dieser Vermischung zwischen straffälligem Verhalten und Religion, bzw. Religiosität erzwingt die Konfrontation mit der Staatsgewalt meist eine Auseinandersetzung mit der eigenen Religion bzw. Religiosität.
Zwischen Relativierung, Intensivierung und Kontinuität
Doch wie fällt diese Auseinandersetzung aus? Darüber wissen wir noch sehr wenig. Was geschieht zum Beispiel mit Menschen, die sich von terroristischen Straftaten abwenden? Die verurteilt werden und danach nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung treten? Bedeutet dieses «Disengagement», wie es in der Fachsprache heisst, zwangsläufig auch eine Abkehr von der Religion? Welche Veränderungen vollziehen sie in ihrer Religiosität – und was bleibt?
In meiner Forschung über Menschen, die wegen Terrorismusstraftaten verurteilt wurden, stelle ich in dieser Hinsicht eine grosse Heterogenität fest und doch lassen sich drei Tendenzen erkennen:
- Relativierung: Das politisch-religiöse Engagement, meist für eine verbotene Gruppierung, lässt nach, oder es kommt zu einer kompletten Abkehr vom Islam. Hier kann es auch zu einer anti-islamischen Haltung kommen.
- Intensivierung: Es kommt zu verstärkter Politisierung und einem stärkeren religiösen Zugehörigkeitsgefühl bzw. Praxis. Es kann zu weiterer Radikalisierung und erneutem straffälligem Verhalten kommen.
- Kontinuität: Das politisch-religiöse Engagement wird beibehalten, ohne dass es zu straffälligem Verhalten kommt; oder das gar nicht erst bestehende politisch-religiöse Engagement bleibt abwesend (apolitisch & areligiös).
Nachfolgend einige Beispiele aus der Praxis, die zur Veranschaulichung der drei Tendenzen dienen, wobei die Tendenzen überlappend auftreten können:
Islam = IS
Sowohl Luca (23) als auch Max (30) konvertieren im Zusammenhang mit dem IS zum Islam: In ihrer Haft und nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis distanzierten sich beide zuerst vom IS, und dann bald von der Religion als Ganzes. Beide haben sich wieder in ihr familiäres, nicht-muslimisches Umfeld integriert und führen romantische Beziehungen mit nicht-muslimischen Frauen. Den einzigen Islam, den sie kannten, war derjenige in der Auslegung des IS, und dieser ist aus ihrer Sicht – verständlicherweise – nicht mit einem regelkonformen Lebensentwurf in der Schweiz vereinbar.
«Shari’a in meinen vier Wänden»
Matteo (38), der mit dem IS sympathisierte und für dessen Unterstützung verurteilt wurde, wandte sich zwar von der Organisation ab, hält aber weiterhin an einer sehr strengen Auslegung des Islam fest (die aus seiner Sicht nicht «streng» ist, sondern die einzig richtige). Diese beschränkt er jedoch auf seine Privatsphäre: «Shari’a in meinen vier Wänden, sozusagen». Gleichzeitig ist sein Disengagement an eine Depolitisierung seiner Religionsausübung gebunden: Er vermeidet die Auseinandersetzung mit Konflikten, die muslimische Menschen betreffen, wie z.B. den Nahostkonflikt, weil ihn das «radikalisiert». In seinem Fall lässt sich sowohl eine religiöse Kontinuität als auch eine politische Relativierung beobachten.
«Ich kam aus dem Prozess als noch gläubigerer Muslim heraus»
Redouan (33) wurde verurteilt, weil er Propaganda für die Al-Qaida betrieben haben soll – ein Vorwurf, den er stets abstritt. Er empfand das Verfahren als ungerecht, was ihn «politisch radikalisierte», wie er selbst sagt, und gleichzeitig zu einem «gläubigeren Muslim» machte. Die Religion half ihm, die Zeit der Anklage und Verurteilung zu überstehen, und bestärkte ihn in seinem Glauben. Auch in der Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt, gegen den er sich engagiert, hält er am Glauben und der Hoffnung fest, dass Gott schon eine Lösung bringen wird. Bei ihm fungiert die Religion zumindest teilweise als Bewältigungsmechanismus. Bei Redouan lässt sich also eine religiöse und politische Intensivierung beobachten.
«Ich begann, alles zu hassen, was mit dem Islam zu tun hat»
Sami (41) wurde wegen Beteiligung am IS verurteilt. Er selbst hat stets jegliche Sympathie für den IS bestritten. Er, der als Asylbewerber in die Schweiz kam, sah sich nie als religiös und bezeichnet sich sogar als religiösen Analpheten: Im Gefängnis bat er einen Imam, ihm die Fatiha, die erste koranische Sure, aufzuschreiben, um sie zu rezitieren, in der Hoffnung, damit die Isolationshaft besser überstehen zu können. Nach seiner Entlassung näherte er sich der Religion nicht an – im Gegenteil. Er begann, alles abzulehnen, was mit dem Islam zu tun hatte, und mied den Kontakt zu arabisch oder muslimisch gelesenen Personen, weil er seine Verurteilung mit dem Islam verband und befürchtete, erneut Probleme mit den Behörden zu bekommen: «Ich begann alles zu hassen, was mit dem Islam oder mit Arabern zu tun hat.»
Diese kurzen Beispiele verdeutlichen zunächst die Heterogenität, welche die Veränderungen der religiösen Zugehörigkeit und Praxis im Kontext der Verurteilung für eine terroristische Straftat auszuzeichnen scheint. Eine Verurteilung und Distanzierung von Straftaten können sowohl mit einer Relativierung bis hin zu einer Abkehr von Religion als auch mit einer Intensivierung der Religiosität oder gar einer Form der politisch-religiösen Radikalisierung einhergehen.
Diese Beispiele zeigen zudem, dass der Wandel von Religiosität infolge einer Konfrontation mit der Staatsgewalt damit zusammenzuhängen scheint, wie gefestigt die Befragten in Bezug auf Religion waren. Hatte das Religiöse lediglich einen instrumentellen Zweck oder war es ausschliesslich an eine bestimmte Gruppierung gebunden, so bedeutete die Abkehr von der Straffälligkeit in diesen Fällen tendenziell eine Distanzierung vom Islam. Dort aber, wo ein breiteres Verständnis von Islam vorhanden war, fand eine Veränderung der Religiosität statt, z.B. eine Privatisierung oder Depolitisierung, um ein regelkonformes Leben führen zu können.
Die Taqiya-Falle
Schliesslich beobachtete ich: Im Kontext der Terrorismusbekämpfung kann es sich für betroffene Personen als nützlich erweisen, sich ganz vom Islam abzuwenden. Wer sich vom Islam abwendet, der unterstützt nicht so schnell wieder eine islamistische geprägte, verbotene Gruppierung, so die – teilweise berechtigte – Annahme. Diese Möglichkeit der kompletten Abwendung ist jedoch nicht für alle gleichermassen zugänglich und abhängig davon, welche Charakteristiken einer Person zugeschrieben werden: Max und Luca, beides weisse Männer mit schweizerischer Staatsbürgerschaft, konnten durch ihre Distanzierung effektiv die behördliche Skepsis verringern und beginnen, ihr Leben neu aufzubauen. Sami jedoch, der anhand seines Aussehens und Namens als arabisch-muslimisch gelesen wird, und der zudem kein gesichertes Aufenthaltsrecht in der Schweiz hat, bleibt weiterhin suspekt – unabhängig davon, wie atheistisch er sich positioniert. Wenn auch Max und Luca anfänglich mit der «Taqiya»-Falle zu kämpfen haben, beschleunigte ihr Weisssein ihren Ausbruch daraus. Für Sami ist dies hingegen weit schwieriger. Davon zeugt die seit Jahren andauernde behördliche Qualifikation seiner Person als Gefahr für die innere und äussere Sicherheit der Schweiz, welche ihn in einem permanenten Limbo-Status gefangen hält.
Weiterführende Literatur
Literatur
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