Lokale muslimische Gemeinschaften in der Schweiz: Entwicklung zwischen 2008 und 2020

Decorated with an Islamic architectural pattern mosaic.
1.    Einleitung

Die zwei Wellen der National Congregation Study Switzerland (NCSS), einer Studie über lokale religiöse Gemeinschaften, haben eine umfassende Liste von lokalen religiösen Gemeinschaften in der Schweiz für die Jahre 2008 und 2020 erstellt. Dadurch ist es möglich, die jüngste Entwicklung zur Anzahl von Gemeinschaften über alle religiösen Traditionen hinweg zu verfolgen. In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit den Ergebnissen der NCSS-Erhebungen in Bezug auf muslimische Gemeinschaften.

2. Eine äusserst stabile Anzahl von Gemeinden

Zwischen 2008 und 2020 blieb die Zahl der lokalen muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz nahezu unverändert. Tatsächlich ist die Zahl von 366 im Jahr 2008 auf 367 im Jahr 2020 gestiegen.

Diese Stabilität ist erstaunlich. Tatsächlich ist die muslimische Bevölkerung zwischen 2010 und 2018 um rund 18%[1] gewachsen (BFS, 2018). Diese Diskrepanz zwischen einer deutlich wachsenden muslimischen Bevölkerung und einer stabilen Anzahl an Gemeinschaften hängt wahrscheinlich mit den Schwierigkeiten zusammen, auf die muslimische Vereine stossen, wenn es darum geht, eine neue Moschee oder einen Gebetsraum zu eröffnen. Tatsächlich hatten 22% der muslimischen Gemeinschaften ein «Problem mit Widerständen», um «eine Kultstätte zu errichten oder zu nutzen», was doppelt so hoch ist wie der allgemeine Durchschnitt (11%) (Stolz & Monnot, 2009). Eine von Christophe Monnot (2016) durchgeführte Ethnografie kann bestätigen, dass Schweizer Musliminnen und Muslime in der Schweiz mit einem beträchtlichen Grad an Widerstand konfrontiert sind, wenn es darum geht, Kultstätten zu errichten oder zu mieten.

[1] Dieser und alle folgenden Prozentsätze werden auf ganze Zahlen gerundet.

3. Eine Dynamik der «Rotation»

Hinter dieser scheinbaren Stabilität verbirgt sich in Wirklichkeit eine starke Dynamik der «Rotation» von muslimischen Gemeinschaften. Wie wir in der obigen Grafik sehen können, hat fast ein Viertel der 2008 bestehenden Gemeinden (87, rot dargestellt) 2020 einer ähnlichen Anzahl neuer Gemeinden Platz gemacht (88, grün dargestellt). Diese Dynamik der Ersetzung findet sich nicht in den meisten christlichen Strömungen, in denen die Entstehung, aber auch die Schliessung von Gemeinden wesentlich seltener ist. So wurden beispielsweise zwischen 2008 und 2020 keine neuen katholischen Gemeinden gegründet, und der Anteil der geschlossenen Gemeinden ist in dieser Tradition viel geringer (7 % gegenüber 24 % bei muslimischen Gemeinden). Diese viel höhere «Sterblichkeit» der muslimischen Gemeinden lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass sie in der Regel über sehr wenige Ressourcen sowohl in Bezug auf das Budget als auch auf die Mitgliederzahl verfügen. Im Gegensatz zu den meisten reformierten und katholischen Gemeinden können sie sich nicht auf Kirchensteuern stützen, um zu bestehen.

4. Entwicklung nach Strömungen

Wie steht es um die innere Vielfalt des Islam? Wie in einem Artikel von Islam&Society erläutert, zeichnet sich der Islam durch eine grosse Vielfalt an Strömungen aus. Wenn man dieselbe Grafik nimmt, sie aber nach Strömungen aufschlüsselt, dann stellt man fest, dass die Entwicklung je nach Strömung des Islam, um die es geht, unterschiedlich verläuft. So ist beispielsweise die Zahl der sunnitischen Gemeinden leicht gesunken (von 271 auf 257 Gemeinden), während die Zahl der schiitischen Gemeinden stark gestiegen ist (von 6 auf 10 Gemeinden).

5. Zusammenfassung

Die Gesamtzahl der muslimischen Gemeinschaften hat sich zwischen 2008 und 2020 nicht verändert, obwohl die Zahl der Musliminnen und Muslime in der Schweiz gestiegen ist. Dies steht im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten, auf die Musliminnen und Muslimen stossen, wenn es um die Einrichtung oder Anmietung von Kultstätten geht. Wie bei Gemeinschaften, die anderen religiösen Minderheitstraditionen angehören, ist auch bei muslimischen Gemeinschaften eine Dynamik der Rotation zu beobachten. Schliesslich ist die Entwicklung der Anzahl muslimischer Gemeinschaften je nach Strömung, um die es sich handelt, uneinheitlich.

Methodologie

Dieser Artikel stützt sich hauptsächlich auf die Erhebungen der lokalen religiösen Gemeinschaften, die in den beiden Wellen der National Congregation Study Switzerland (NCSS) durchgeführt wurden. Die Erhebungen fanden in den Jahren 2008 und 2020 statt und verwendeten eine ähnliche Methodik. Beide basieren auf der Definition von lokalen religiösen Gemeinschaften oder «Kongregationen» von Mark Chaves. Gezählt wurden demnach folgende Gruppen:

eine soziale Institution, in der Einzelpersonen, die nicht alle Religionsspezialisten sind, in physischer Nähe zueinander häufig und in regelmässigen Abständen zu Aktivitäten und Veranstaltungen mit explizit religiösem Inhalt und Zweck zusammenkommen, und in der es eine zeitliche Kontinuität hinsichtlich der zusammenkommenden Einzelpersonen, des Ortes der Zusammenkunft und der Art der Aktivitäten und Veranstaltungen bei jeder Zusammenkunft gibt. (Chaves, 2004)

Bei der Anwendung dieser Definition wurden lokale religiöse Gemeinschaften in der ganzen Schweiz und in allen religiösen Traditionen gezählt. Bei den Erhebungen wurde eine Vielzahl von Quellen herangezogen (von Akademikerinnen und Akademikern oder religiösen Verbänden veröffentlichte Listen, Webseiten lokaler Gemeinschaften usw.). All diese Informationen wurden anschliessend kombiniert und geprüft. Ausser in Ausnahmefällen wurde eine Gemeinschaft nur dann in die endgültige Liste aufgenommen, wenn sie in zwei unabhängigen Informationsquellen aufgeführt war. Bei der zweiten Erhebung wurde die Liste von 2008 wieder aufgenommen und systematisch aktualisiert.

Bibliografie
Literatur
  • Chaves, M. (2004). Congregations in America. Harvard University Press.
  • Monnot, C. (2013). Croire ensemble. Analyse institutionnelle du paysage religieux en Suisse. Seismo.
  • Monnot, C. (2016). Visibility or invisibility: The dilemma of the Muslim Associations of Switzerland. journal of religion in europe, 9(1), 44-65.
  • OFS. (2018). Relevé structurel 2016-2018 OFS.
  • Stolz, J., & Monnot, C. (2009). National Congregation Switzerland. First Wave Dataset.
Zur Vertiefung
Website NCSS
Literatur
  • Die Dissertation von Christophe Monnot (2013), die 2013 auf der Grundlage der Daten der ersten Welle des NCSS veröffentlicht wurde, bietet eine soziologische Analyse der religiösen Landschaft der Schweiz, die durch das Prisma der lokalen religiösen Gemeinschaften erfasst wird.

Jeremy Senn

Jeremy Senn ist Doktorand in Soziologie am sozialwissenschaftlichen Institut für Religionen (ISSR) der Universität Lausanne. Seine Dissertation schreibt er im Rahmen des Projekts National Congregation Study, einer quantitativen Studie über lokale religiöse Gemeinschaften in der Schweiz. Seine Forschung befasst sich mit Säkularisierung, religiöser Vielfalt oder etwa der Entwicklung der Bedeutung von Frauen in religiösen Gruppen.

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