Muris Begovic, Imam, muslimischer Seelsorger und Geschäftsführer QuaMS
Muslimische Seelsorge in öffentlichen Institutionen
Ein junges Angebot
Muslimische Seelsorge in der Schweiz ist ein Angebot, das aus einem Bedarf gewachsen ist. Im Islam gehört die Sorge um die Kranken und Schwachen zu den religiösen Grundpflichten eines jeden Gläubigen. In mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern übernahmen in der Regel Familienangehörige und Bekannte im Krankheitsfall oder in Krisensituationen die Fürsorge um die Betroffenen. Während der Begriff «Seelsorge» christlich geprägt ist und sich Seelsorge im modernen Sinn seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hat, ist im Islam das neue Tätigkeitsfeld erst im Entstehen begriffen. In Europa wie auch in muslimischen Ländern hat sich in den letzten zwanzig Jahren eine Nachfrage nach einem professionalisierten Angebot an muslimischer Seelsorge als hybrides Modell heutiger postmoderner globaler Gesellschaften entwickelt. Diese ist zwar von der christlichen Seelsorge inspiriert, muss aber ihre eigenen Konzepte und Interpretationen in einem säkularen Umfeld erarbeiten. Vor allem im angelsächsischen, in Ansätzen auch im deutschen Sprachraum hat sich eine erste akademische und konzeptionelle Fundierung von islamischer Seelsorge herausgebildet. In den französischsprachigen Ländern stecken die Diskussionen noch in den Anfängen.
Erste Schritte in der Entstehung muslimischer Seelsorge
In der Schweiz ist das Seelsorgeangebot in öffentlichen Institutionen rechtlich auf kantonaler Ebene geregelt. Die kantonal anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften, meist die katholischen und reformierten Landeskirchen, sind dabei weitgehend für die Sicherstellung und Finanzierung des Angebots zuständig. Auf Wunsch von Betroffenen dürfen auch Vertreterinnen und Vertreter nicht-anerkannter Religionsgemeinschaften für religiöse Dienste hinzugezogenen werden. Das Recht auf Seelsorge im Spital ist in den kantonalen Spitalgesetzesverordnungen geregelt. Ein Bundesgerichtsentscheid von 1987 hat erwirkt, dass Insassen muslimischen Glaubens ihre Religion im Rahmen des Möglichen ausüben dürfen. Einige Spitäler und Gefängnisse haben Listen mit Kontaktdaten von Imamen und muslimischen Vereinen erstellt, welche bei Bedarf, meist in Not- und Krisensituationen, gerufen werden. Diese Praxis wird schon seit längerem als nicht mehr ausreichend erfahren. Über Imame hinaus sind auch entsprechend qualifizierte Frauen im Bereich der muslimischen Seelsorge engagiert. Mit der Intensivierung der Zusammenarbeit von öffentlichen Institutionen und muslimischen Akteuren rückte zudem die Frage nach einer Zentralisierung und Qualitätssicherung des Angebots in den Vordergrund. Verschiedene öffentliche Institutionen und Kantone haben deshalb Schritte hin zu einem regelmässigen und von in Grundlagen qualifizierten muslimischen Seelsorgenden geleisteten Angebot eingeleitet.
Weiterbildung im Bereiche muslimischer Seelsorge
Seit 2017 sind verschiedene Weiterbildungsangebote an den Universitäten Bern, Freiburg und Lausanne entstanden. Sie orientieren sich an den rechtlichen Strukturen der Kantone, an den Bedürfnissen der öffentlichen Institutionen und an dem bereits bestehenden Seelsorgeangebot. Dabei wird diskutiert, ob es ein spezifisches Weiterbildungsangebot für muslimische Seelsorgende braucht oder ob ein überkonfessionelles Angebot passender ist.
Der Bedarf in den Institutionen
Heute nehmen verschiedene öffentliche Einrichtungen muslimische Seelsorgedienste in Anspruch. Spitäler, Strafvollzugsanstalten und Asylzentren sind drei Beispiele dafür. Obwohl das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften auf kantonaler Ebene geregelt ist, hängen die Regelung der Zusammenarbeit, die Form des Angebots und deren Organisation nicht nur von den Kantonen, sondern innerhalb eines Kantons auch von den unterschiedlichen öffentlichen Institutionen selbst ab. Die seelsorgerlichen Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten im Spital, von Personen in Gewahrsam oder von Personen im Asylverfahren sind sehr unterschiedlich. Hinzu kommen institutionelle Spezifika wie beispielsweise Sicherheitsanforderungen oder der Schutz von vulnerablen Personen. Dies verlangt nach einer Vielzahl von auf die Institutionen zugeschnittenen Antworten.
Seelsorge im Spital
Muslimische Seelsorge in Spitälern ist bis heute vor allem ein Angebot auf Nachfrage und wird meist ehrenamtlich geleistet. Zwischen den Institutionen und Kantonen bestehen dabei grosse Unterschiede. Anbei die wichtigsten Beispiele aus verschiedenen Kantonen:
Im Kanton Genf wurde 2006 eine Partnerschaftsvereinbarung zwischen den Hôpitaux Universitaires Genevois (HUG) und der Association Aumônerie Musulmane (AAM) unterzeichnet. Dieser Verein wurde mit dem expliziten Ziel gegründet, sich um die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten in Bezug auf spirituelle Begleitung zu kümmern. Er kann auf das Engagement von Freiwilligen mit einem religiösen Wissen zahlen, die zudem im Zuhören und in der Mediation geschult sind.
Im Kanton Waadt ist die Seelsorge ein Vorrecht der katholischen und der reformierten Kirche. Es gibt jedoch Regelungen für Angehörige nicht anerkannter Religionsgemeinschaften, die sich wiederum zwischen Institutionen wie Spitälern und Gefängnissen unterscheiden. In Spitälern darf nur auf ausdrücklichen Wunsch der Patientin oder des Patienten ein muslimischer Seelsorger oder eine muslimische Seelsorgerin anwesend sein. In diesem Fall fungiert der christliche Spitalseelsorger als Bindeglied zwischen dem muslimischen Seelsorgenden und der hospitalisierten Person. Auf der Website der Spitalseelsorge führt das Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV) die beiden muslimischen Organisationen, mit denen es hierfür kooperiert, auf.
Im Kanton Bern führt das Inselspital eine Liste mit Seelsorgenden verschiedener Konfessionen und Religionen und arbeitet zudem mit einem Netzwerk von Imamen und mit Personen muslimischen Glaubens zusammen, die verschiedene Sprachen sprechen. Diese Liste steht den Seelsorgenden der Institution zur Verfügung, die die darauf verzeichneten Personen im Bedarfsfall kontaktieren können. Einmal pro Jahr werden alle diese Personen von der Spitalseelsorge für einen Austausch eingeladen. Seit 2019 wird ein muslimischer Seelsorgender mit einer 10%-Stelle beschäftigt.
Im Kanton Luzern existierte am Luzerner Kantonsspital (LUKS) ein muslimischer Besuchsdienst, der aus einer Gruppe von zwei Imamen und sieben weiteren Personen besteht und in Absprache mit der Islamischen Gemeinschaft Luzern (IGL) seit 2013 angeboten wird.
Seit 2017 regelt im Kanton St.Gallen eine Vereinbarung zwischen dem Kantonsspital St. Gallen (KSSG) und dem Dachverband islamischer Gemeinden der Ostschweiz DIGO das muslimische Seelsorgeangebot. Die muslimische Spitalseelsorge wird von einem gemischten Team aus sieben Freiwilligen getragen. Eine Person des Teams ist einmal pro Woche im Spital präsent und besucht muslimische Patientinnen und Patienten. Die Seelsorgenden werden auch in Notfallsituationen gerufen.
Im Kanton Zürich haben die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich und der Dachverband der islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) im Jahr 2017 die Trägerschaft QuaMS – Qualitätssicherung der Muslimischen Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen gegründet. Diese wird von der Evangelisch-reformierten Landeskirche und Römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich in Form einer Begleitkommission unterstützt. QuaMS hat den Auftrag, ein zentralisiertes Angebot und die Qualität der muslimischen Seelsorge in öffentlichen Institutionen sicher zu stellen. Das Angebot von QuaMS steht allen öffentlichen Institutionen wie Spitälern, Gefängnissen, Psychiatrien, Alters- und Pflegeheimen, Schulen, Asylheimen sowie den Blaulichtorganisationen des Kantons Zürich zur Verfügung.
Seelsorge im Justizvollzug
Wie auch bei der muslimischen Seelsorge in Spitälern bestehen für ein Angebot an muslimischer Seelsorge im Justizvollzug zwischen den Institutionen und Kantonen grosse Unterschiede. Das geschlossene und abgesicherte Umfeld von Gefängnissen verlangt zudem eine stärker formalisierte Zusammenarbeit als die mit Spitälern.
In den Kantonen Freiburg und Neuenburg wurde eine Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen einem einzelnen muslimischen Seelsorger – und nicht mit einer muslimischen Organisation – und der Leitung der Einrichtungen unterzeichnet. Der muslimische Seelsorger verpflichtet sich, ein gemeinsames Gebet pro Woche, das nicht unbedingt freitags stattfinden muss, zu leiten. Darüber hinaus kann er in jeder Einrichtung monatlich vier Gefangene zu Einzelgesprächen empfangen. Diese Gespräche finden auf Antrag der Gefangenen und nur auf Anmeldung statt. Für seine Dienstleistung erhält diese Ansprechperson eine Kilometerpauschale.
Im Kanton Waadt haben die Strafvollzugsanstalten eine Zusammenarbeit mit der Union Vaudoise des Associations Musulmanes (UVAM) ins Leben gerufen, die sich verpflichtet, geeignete muslimische Seelsorgende zu finden, die bereit sind, regelmässig das Freitagsgebet zu leiten. Weitere Aktivitäten wie z.B. während des Ramadans, hängen von der Art der Inhaftierung und der Zustimmung der Gefängnisleitung ab. Der Dienst wird freiwillig erbracht und es wird eine Kilometerpauschale vergütet.
Im Kanton Luzern besucht ein Imam in der Justizvollzugsanstalt Grosshof die muslimischen Gefangenen und er leitet auch das Freitagsgebet.
Im Kanton Zürich arbeitet seit 2017 ein Imam und muslimischer Seelsorger mit einer Festanstellung in der JVA Pöschwies. Er ist Teil des Seelsorgeteams und auch Ansprechperson für die Angestellten und die Gefängnisleitung. Zu seinen Aufgaben gehört das Leiten des Freitagsgebets, seelsorgerliche Gespräche mit den Insassen sowie die (Mit-)Organisationen von religiösen und interreligiösen Feiern. Überdies besuchen weitere Imame auf Anfrage Gefangene in den Justizvollzugsanstalten im Kanton Zürich.
Seelsorge in Bundesasylzentren
Seelsorge in der Schweizer Armee
Im Jahr 2020 hat sich die Armeeseelsorge für Seelsorgende in der Armee mit nicht-christlichem Hintergrund geöffnet. Bis dahin hat die Armeeseelsorge nur mit den Landeskirchen zusammengearbeitet. Mit der Öffnung gegenüber anderen Religionsgemeinschaften reagiert die Armeeseelsorge nach eigenen Angaben auf «die diverse religiöse und weltanschauliche Lebensrealität ihrer Angehörigen.» Neu stehen heute neben Seelsorgenden aus den drei Landeskirchen auch ein muslimischer, zwei jüdische sowie Seelsorgende mit freikirchlichem Hintergrund den Angehörigen der Armee als Ansprechpartner und Ansprechpartnerinnen zur Verfügung. Um dies zu ermöglichen wurde eine Partnerschaft mit den Dachorganisationen der Gemeinden eingegangen, die sich zu den Prinzipien der Armeeseelsorge in einer Vereinbarung bekennen. Das Angebot der Armeeseelsorge steht offen für Angehörige der Armee aus allen Glaubensrichtungen und mit unterschiedlichen Weltanschauungen. Im Zentrum des Dienstes steht der Mensch mit seinen aktuellen Anliegen und Sorgen. Die Armeeseelsorgenden aus unterschiedlichen religiösen Traditionen sind für alle Angehörigen der Armee zuständig und betreuen diese auf Wunsch. Bei spezifischen theologischen Fragen, die nicht ihre eigene Religion betreffen, arbeiten sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Konfessionen zusammen.
Bibliografie
Literatur
Links