Muharram-Gedenkfeier in einer afghanischen schiitischen Gemeinde im Jahr 2024 (Foto: M. Schneuwly Purdie)
Schiitische Gemeinschaften in der Schweiz: ein erster Überblick
Dr. Mallory Schneuwly Purdie, Universität Freiburg
Zwar gehört die Mehrheit der Muslim:innen den Sunnit:innen an, doch auch Schiit:innen stellen eine demografisch bedeutsame Gruppe dar. Dies gilt auch für die Schweiz. Trotzdem haben sich die akademische Forschung und die mediale Berichterstattung zum Islam in der Schweiz bisher nur am Rande mit schiitischen Gemeinschaften befasst. Basierend auf einer explorativen Studie, die zwischen Juni 2023 und Juli 2024 mit schiitischen Vereinsverantwortlichen durchgeführt wurde, gibt dieser kurze Artikel einen Überblick über die Vielfalt der schiitischen Gemeinschaften in der Schweiz. Die hier vorgestellten Erkenntnisse sind das Ergebnis halbdirektiver Interviews mit 18 Personen, die in schiitischen Vereinigungen in den drei Sprachregionen der Schweiz aktiv sind.
Worum geht es bei der Schia?
Der Begriff Schia leitet sich vom arabischen Wort shi’at Ali ab. Er bezeichnet diejenigen Menschen, die sich bei den Streitigkeiten um die Nachfolge nach dem Tod des Propheten Muhammad (632) auf die Seite von Ali (Cousin und Schwiegersohn des Propheten) stellten, der sich seinerseits gegen die Anhänger von Abu Bakr, dem engen Gefährten des Propheten und ersten Kalifen der jungen muslimischen Gemeinschaft, gestellt hatte. Die Spaltung zwischen den beiden Strömungen entstand jedoch erst im Laufe der Zeit: Sie nahm mit der Verdrängung Alis aus dem Kalifat ihren Anfang, wovon Abu Bakr (632-634), Omar (634-644) und dann Othman (644-656) zu profitieren vermochten. Mit der Ermordung Othmans und der umstrittenen Übernahme des Kalifats durch Ali (656-661) vergrösserte sich diese Kluft. Der Märtyrertod von Hussain, dem Sohn von Ali und Enkel des Propheten, in Kerbala im Jahr 680 markierte einen wichtigen Wendepunkt in dieser sowohl politisch als auch theologisch bedeutsamen Spaltung, die sich auch heute noch auf die Geopolitik auswirkt (Mervin 2016).
Die Schia besteht aus mehreren Richtungen, die zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert entstanden. Gemeinsam haben diese verschiedenen Gruppierungen, dass sie die ersten vier Imame (Ali, Hassan, Hussain und Ali Zayn al-Abidin) anerkennen. In der Folge entwickelten sie ihre eigene Linie von Imamen, eigene religiöse Lehren und politische Beziehungen. Man unterscheidet zwischen imamitischer (auch Zwölfer-Schiiten genannt), ismailitischer (Siebener-Schiiten) und zayditischer (Fünfer-Schiiten) Schia (Mervin 2016). Neben diesen drei Hauptströmungen entstanden auch Minderheitsbewegungen wie beispielsweise die Alawiten, die wie die Bektaschi bestimmte Überzeugungen und Praktiken mit Schiiten teilen.
Schiitische Minderheiten gibt es in allen Ländern, in denen der Islam vertreten ist, so auch in Europa. Im Iran, Irak und in Aserbaidschan bilden Schiiten die Mehrheit. Grössere Minderheiten leben unter anderem im Libanon, in Syrien, Bahrain, Kuwait, Jemen, Saudi-Arabien, Afghanistan, Indien, Pakistan, Indonesien, aber auch auf dem Balkan und in der Türkei.
Ein historischer Blick auf Schiit:innen in der Schweiz
Zusammen mit diplomatischen Vertretungen (Botschaften und internationale Organisationen) aus mehrheitlich schiitischen Ländern und einigen Studierenden liessen sich die ersten Schiit:innen Anfang der 1970-er Jahre dauerhaft in der Schweiz nieder. Es handelte sich bei ihnen um Khôjas-Geflüchtete, Angehörige eines Händlerstammes indisch-pakistanischer Herkunft, der seit mehreren Generationen in den britischen Kolonien in Ostafrika florierte. Im Jahr 1972 kamen einige Zwölfer-schiitische Khôdjas-Familien pakistanischer Herkunft aus Uganda in den Kanton Neuenburg. Sie liessen sich dort nieder und gründeten die erste schiitische Gemeinde. Diese bestand aus einer informellen Gruppe, die sich in Privatwohnungen traf. Ab Mitte der 1970-er Jahre, als ihr Heimatland vom Bürgerkrieg (1975-1990) heimgesucht wurde, fanden auch die ersten Libanes:innen (sowohl Sunnit:innen als auch Schiit:innen) in verschiedenen Schweizer Regionen Zuflucht. Ihnen folgten bald Vertriebene des Bruderkriegs zwischen Iran und Irak (1980-1988), aber auch Menschen aus dem Iran, die vor dem repressiven Regime flohen, das aus der Islamischen Revolution von 1979 hervorgegangen war, und afghanische Schiit:innen, die unter dem Taliban-Regime litten (1996-2001).
Die Anwesenheit von der Schia angehörigen Menschen in der Schweiz ist somit hauptsächlich auf Konflikte zurückzuführen, die auch heute noch den Nahen Osten erschüttern. Der Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 und der anschliessende Zusammenbruch des Iraks, der Krieg in Syrien ab 2011, die Entstehung des Islamischen Staates im Jahre 2014 sowie die erneute Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 in Afghanistan führten dazu, dass Menschen aus diesen Ländern, darunter natürlich auch Anhänger:innen der Schia, ins Exil gingen. Doch auch eine kleine Gruppe von Schweizer:innen, die zum Islam konvertiert sind, bekennen sich zur Schia.
Eine nur langsame Entstehung des Vereinswesens
Noch bis in die 1990-er Jahre waren Schiit:innen nicht formell in einer religiösen Vereinigung organisiert. Als kleine Gruppe innerhalb der grösseren muslimischen Minderheit besuchten sie sunnitische Moscheen, um dort zu beten oder die wichtigsten Feste des hegirischen Kalenders (Eid el Fitr und Eid el Kebir) zu feiern. Andere hingegen versammelten sich in Privatwohnungen oder mieteten Räume für bestimmte Anlässe des schiitischen liturgischen Jahres, insbesondere für das Aschura-Fest (Anlass zum Gedenken an den Märtyrertod von Imam Hussain).
1992 entstand ein Komitee, das den Verein Ahl el Beyt Schweiz (Ausdruck zur Bezeichnung der «Leute aus dem Haus des Propheten») gründete. Dem Verein gehören Mitglieder aus mehreren Schweizer Städten an, darunter Genf, Lausanne, Zürich, Luzern, Bern und Freiburg. Er verfolgt das Ziel, zwei grosse Veranstaltungen pro Jahr zu organisieren, bei denen die in der Schweiz wohnhaften Schiit:innen zusammenkommen. Ab 1995 machten sich die Lokalgruppen nach und nach selbstständig. Bis 2005 gelang es allen seit Beginn aktiven Mitgliedern, ihre eigenen Strukturen aufzubauen. Mittlerweile gibt es in der Schweiz unter dem Namen Ahl el Beyt mehrere Vereine, vor allem in den Kantonen Genf, Waadt, Bern und Zürich. Seit Anfang der 2000-er Jahre entstanden im Tessin, in Solothurn und in Luzern weitere solche Vereinigungen.
Im August 2024 wurden 16 schiitische Vereine oder Gruppen, die religiöse, kulturelle oder soziale Aktivitäten organisieren, formell identifiziert. Die meisten haben einen eigenen Raum. Einige teilen sich die Räumlichkeiten, andere bieten diese in Untermiete an und verfügen über eine entsprechende Planung für die Raumnutzung. Einer der Vereine organisiert seine Veranstaltungen in einem Netzwerk von Religionsgemeinschaften (sunnitisch oder schiitisch, manchmal ein Gemeindesaal). Eine andere Gruppe wiederum lädt ihre Mitglieder weiterhin zu einer Privatperson nach Hause ein. Sie legt den Fokus auf soziale Aktivitäten und die Organisation öffentlicher Veranstaltungen.
Ein Blick auf die Landkarte der Schweiz zeigt jedoch, dass es in einigen Regionen, in denen teilweise eine grosse muslimische Minderheit lebt, keine schiitischen Vereinigungen gibt. Dies ist in Basel, Aargau, Thurgau, Glarus, St. Gallen und Graubünden der Fall. Aus den Interviews ging jedoch hervor, dass sich Schiit:innen aus diesen Regionen insbesondere für Anlässe wie das Aschura-Fest organisieren. Diese Dynamik deutet darauf hin, dass in den kommenden Jahren neue schiitische Vereinigungen entstehen könnten, einerseits innerhalb der zweiten und dritten Generation, andererseits aufgrund der Ansiedlung neuer schiitischer Minderheiten, die aus Menschen aus Afghanistan oder Anhänger:innen Schia vom indischen Subkontinent bestehen.
Eine Vielfalt an schiitischen Gemeinschaften
Die Schia folgt in der Schweiz mehrheitlich der Theologie der Zwölfer-Schiiten. Die schiitischen Gemeinschaften unterscheiden sich jedoch in vielerlei Hinsicht. Tatsächlich ist die Schia in der Schweiz angesichts der nationalen, sprachlichen und ethnischen Hintergründe seiner Anhänger pluralistisch. Wie bei sunnitischen Gemeinschaften, spiegelt sich diese Vielfalt auch in der Strukturierung des Vereinswesens wider. Vereine, die historisch auf einer gemeinsamen Sprache basieren, z. B. Farsi (iranische Gemeinschaften), Arabisch (libanesische und irakische Gemeinschaften), Urdu, Gudscharati, Kutchi oder Englisch (indisch-pakistanische und Khôdja-Gemeinschaften) und Dari (afghanische Gemeinschaften) existieren nebeneinander.
Zu dieser sprachlichen und kulturellen Diversität gesellen sich vielfältige Beziehungen zwischen den Mitgliedern und Besuchenden, die den in den Herkunftsländern herrschenden Regimen angehören. Besonders deutlich wird dies bei den iranischen Gemeinschaften. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass in ein und demselben Verein Vertretende der iranischen Regierung und auch politische Geflüchtete aus demselben Land zusammenkommen. Die politische und ideologische Nähe, die manche Mitglieder oder Besuchende bestimmter schiitischer Vereinigungen zum iranischen Regime oder zur libanesischen Hisbollah aufweisen, kann zu internen Konflikten und Abspaltungen führen. Der aktuelle geopolitische Kontext lässt deshalb mancherorts auch alte Differenzen und Streitigkeiten wieder aufleben.
Heute kann jedoch eine Übertragung der Vereinsführung an die zweite und dritte Generation beobachtet werden. Auch Individuen, die zur Schia konvertiert sind, spielen nicht selten eine Rolle in den lokalen Gemeinschaften. Diese jungen Männer und Frauen, die in der Schweiz sozialisiert und oft auch hier geboren wurden, leben ihre Religiosität unabhängig von Verstrickungen mit der Politik des Herkunftslandes. Sie vernetzen sich auf europäischer Ebene: Die Gemeinden in der Westschweiz bauen Verbindungen zu Scheichs und Gemeinden in Frankreich und Belgien auf, die deutschsprachigen Gemeinden zu Deutschland und Österreich und die Tessiner Gemeinde zu Italien. Eine Ausnahme bilden die indisch-pakistanischen Gemeinschaften, insbesondere die Khôja[1], die eher dazu neigen, sich mit Gelehrten und Gruppen aus Grossbritannien zu vernetzen. Diese Generationenkluft spiegelt sich auch in einer Befürwortung der Verwendung der in der Schweiz gesprochenen Sprachen im Religionsunterricht, bei Zeremonien und Gedenkfeiern wider. Derselbe Anspruch gilt für Prediger und den Inhalt der Predigten. Die jungen Generationen erwarten von den Gelehrten, dass sie ihre Lebensumstände kennen und Themen zur Sprache bringen, die mit ihren alltäglichen Herausforderungen zu tun haben und ihnen religiöse Orientierung bieten. Entsprechend berichteten mehrere Vereinsverantwortliche von der Schwierigkeit, bei ihren Gedenkanlässen allen Beteiligten gerecht zu werden. Als Grund genannt wurden sprachliche oder inhaltliche Aspekte, aber auch Rituale, die sich je nach Geschlecht unterscheiden.
Schlussfolgerung
Dieser kurze Beitrag sollte einen ersten Einblick in eine noch unbekannte muslimische Minderheit in der Schweiz bieten. Mit ihm liess die Autorin die Leserin oder den Leser einen kurzen Blick auf die nationale, kulturelle, sprachliche und generationsbedingte Vielfalt des Themas erhaschen. Es bedarf jedoch weiterer Forschung, um die Besonderheiten der Vereine und die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben, besser zu verstehen. Auch müssen die Herausforderungen, denen sie bei ihren Etablierungsprozessen und als Repräsentanten der schiitisch-muslimischen Gemeinschaften im schweizerischen Kontext begegnen, analysiert und in einen breiteren Kontext gestellt werden.
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[1] Die Khôja bilden in der Tat eine international stark strukturierte Diaspora. Auf europäischer Ebene mit dem Council of European Jamaats, der wiederum Mitglied der World Federation of Khoja Shia Ithna-Asheri Muslim Communities in England ist.
Bibliografie
Literatur
Mervin, S. (2016). Histoire de l’islam. Chapitre 6 et 7, Flammarion.