Imamsein in der Schweiz: «Wie ein Call-Center»?

Noemi Trucco, Universität Freiburg, 2024

Über Imame wird in der Öffentlichkeit viel gesprochen, oftmals fehlt dabei jedoch die Sicht der Imame. Der vorliegende Beitrag möchte daher der Frage nachgehen, welche Aspekte das Imamsein in der Schweiz aus der Perspektive der Imame selbst prägen. Dazu wurden im Rahmen einer qualitativen Forschungsarbeit problemzentrierte Interviews mit Imamen geführt 

Tätigkeitsbereiche von Imamen in der Schweiz

Zunächst wird im Rahmen der genannten Forschungsarbeit deutlich, dass die Rolle des Imams in der Schweiz nur wenig formalisiert ist. Es können gewisse Aufgaben ausgemacht werden, die von nahezu allen Imamen genannt werden: die Leitung der täglichen Gebete, das Halten der Freitagspredigt, das Erteilen von Religionsunterricht in der Moschee und die Durchführung von Riten bei Geburt, Heirat und Tod sowie das Beantworten religiöser Fragen. Zusätzlich führen einige Imame die sozialarbeiterische Beratung, Seelsorge, Jugendarbeit, Öffentlichkeitsarbeit oder den interreligiösen Dialog an. Manche Imame unterscheiden entsprechend zwischen einem «eigentlichen» Aufgabenbereich eines Imams und zusätzlichen Aufgaben oder sprechen davon, dass sie in der Schweiz nicht nur Imame seien, sondern auch Seelsorger, Familienberater und Sozialarbeiter. Sie machen deutlich, dass der engere Aufgabenbereich der Rolle des Imams in muslimischen Ländern entspricht, während es in der Schweiz ihrer Meinung nach zu einer Erweiterung der Rolle kommt. Dies liegt laut einigen Imamen unter anderem daran, dass in vielen muslimischen Ländern aufgrund der stärkeren staatlichen Anbindung bzw. Institutionalisierung innerhalb der Moscheen eine Aufgabenteilung stattfindet, so dass der Imam hauptsächlich für den religiösen Bereich zuständig ist. Er leitet das Gebet und hält die Predigt, während weitere Aufgaben von anderen Personen wahrgenommen werden, ganz ähnlich wie das in der reformierten oder katholischen Kirche in der Schweiz der Fall ist. Allerdings werden gerade sozialarbeiterische Aufgaben in muslimischen Ländern eher nicht durch Moscheen wahrgenommen, so dass diese dann ganz wegfallen. Aufgrund der prekären Situation vieler muslimischer Vereine ist eine Aufteilung von Aufgaben innerhalb von Moscheevereinen in der Schweiz kaum möglich: Häufig ist der Imam der einzige entlöhnte Angestellte eines Moscheevereins.

Gleichzeitig findet in europäischen Ländern eine Verschiebung statt, die sich auf den Aufgabenbereich der Imame auswirkt: Während die Moschee in muslimischen Ländern keine Mitgliedschaft kennt und die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft vor allem über religiöse Praktiken vollzogen wird, entsteht in Europa unter anderem aufgrund der religionsrechtlichen Situation der Moscheeverein. Moscheen wandeln sich damit auch zu sozialen Treffpunkten, woraus sich für Imame neue Aufgaben wie sozialarbeiterische Beratung oder Öffentlichkeitsarbeit ergeben. Dass einige Imame die Rolle des Imams in muslimischen Ländern, die einen eingeschränkten Aufgabenbereich umfasst, als die eigentliche Ausgestaltung der Rolle begreifen, wird von Muslim:innen in der Schweiz zum Teil als zu begrenzt kritisiert. Andererseits beurteilen Imame ihre Arbeit aufgrund des erweiterten Aufgabengebiets als zu wenig professionalisiert oder bemängeln fehlende Ausbildungsmöglichkeiten.

Was muss ein Imam mitbringen?

Eine grundlegende Erwartung, die Imame in Interviews nennen, ist, dass ein Imame eine gewisse Bildung oder Ausbildung mitbringen sollte. Das kann einen bestimmten Bildungsabschluss sein, also ein theologisches Studium oder ein Abschluss an einem Gymnasium mit religiösem Schwerpunkt (zum Beispiel an einer türkischen İmam Hatip-Schule bzw. an einer Medrese). Von einzelnen Imamen wird auch eine klassische Ausbildung – die persönliche Wissensweitergabe (iǧāza) von Lehrer zu Schüler – genannt. Ausserdem wichtig ist ihnen, dass Imame stetig dazulernen. Dies lässt sich einerseits theologisch begründen, denn Wissen wird im Koran als wegweisend bewertet (Akça, 2020, S. 34). Andererseits hat es auch mit der bereits erwähnten Erweiterung ihres Tätigkeitsbereichs zu tun, weil nun Aufgaben wie Jugendarbeit oder Sozialarbeit in die Zuständigkeit des Imams fallen. Die dafür nötigen Kompetenzen sind aber nicht Bestandteil der Ausbildungsgänge in muslimischen Ländern, wo die meisten der in der Schweiz tätigen Imame ihre Ausbildung absolviert haben. Imame müssen sich damit Kenntnisse aneignen, um diesen zusätzlichen Aufgaben gerecht werden zu können, so meinen zumindest einige Imame. Sie bringen den Anspruch des kontinuierlichen Lernens aber auch mit der Gesellschaft in Verbindung: Imame sollten aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen verfolgen und entsprechende Problemstellungen kennen, was bedingt, dass sie fortlaufend dazulernen.

Auch muslimische Gemeinschaften haben Erwartungen an Imame. Werden die Imame danach befragt, so machen sie zunächst deutlich, dass der Imam für die muslimischen Gemeinschaften eine wichtige Rolle spielt. So erzählt ein Imam, dass seine Gemeinschaft erwarte, «dass ich mit ihnen unterwegs bin, dass ich sie sozusagen zu Gott führe». Ein weiterer beschreibt, dass er in der Moschee «Ruhe und Zufriedenheit» schaffen solle. Der Imam, der in einer Person religiöser Experte, spirituelle Führungspersönlichkeit und moralische Instanz vereint, nimmt somit einen wichtigen Platz in der muslimischen Gemeinschaft ein. Entsprechend wird auch die Vermittlung von religiösem Wissen erwartet, allerdings nicht nur eine einfache Wissensweitergabe, vielmehr wollen Gemeinschaften mit dem Imam in einen Dialog treten und erwarten, dass dessen Antworten zeitgemäss sind. Imame müssen daher aktuelle Entwicklungen und Problemstellungen kennen und sich theologisch adäquat damit auseinandersetzen. Dies bedeutet auch, theologisch fundierte Antworten auf Probleme geben zu können, vor die Muslim:innen gestellt sein können, wenn sie die normativen Anforderungen ihrer Religion erfüllen, aber gleichzeitig auch den Anforderungen des gesellschaftlichen Alltags gerecht werden möchten.

Gefahr der Überlastung

Allerdings werden die Erwartungen der muslimischen Gemeinschaften von den Imamen als hoch und zum Teil ausufernd beschrieben. Imame seien laut der Gemeinschaft für «alles» zuständig, so ein Imam im Interview. Dies hat teilweise damit zu tun, dass oft keine Vereinbarung über den Aufgabenbereich eines Imams geschlossen wird. Entsprechend beschreiben sich einige Imame als überlastet, insbesondere weil ihre Tätigkeit nicht zeitlich festgelegt ist. Dies hängt unter anderem mit den Gebetszeiten zusammen, die aus astronomischen Erscheinungen wie dem Sonnenstand abgeleitet werden und sich daher über das Jahr verändern. Dazu kommt auch die Erwartung einiger muslimischer Gemeinschaften, dass der Imam rund um die Uhr zur Verfügung stehen sollte, weil er in Notsituationen erreichbar sein muss. Dementsprechend spricht ein Imam davon, dass er 24 Stunden erreichbar und «wie ein Call-Center» sei. Weiter zeigt sich, dass es einige Imame als belastend empfinden, dass sie ihre Tätigkeit und ihr Familienleben kaum in Einklang bringen können. Insbesondere dass sie wenig Zeit für ihre Kinder haben, nehmen sie als grosse Schwierigkeit wahr, insbesondere da viele Imame am Wochenende Religionsunterricht in der Moschee geben. Ein weiterer Faktor für ihre Überlastung, den sie nennen, ist die mangelnde Trennung zwischen Berufs- und Privatrolle. So spricht ein Imam davon, dass er «immer Imam» sei, «in der Strasse, in den Bergen, zu Hause». Das drückt sich auch räumlich aus, denn einige Imame wohnen im Gebäude des Gebetsraums bzw. der Moschee, weil ihnen die Wohnung von der muslimischen Gemeinschaft zur Verfügung gestellt wird. Wie einige Imame zum Ausdruck bringen, würden Vereinbarungen über die Tätigkeitsbereiche und ihren Umfang zur Verhinderung entgrenzter Arbeitsbedingungen eine mögliche Entlastung darstellen. Allenfalls wäre auch eine wechselseitige Vertretung von Imamen mit entsprechenden Dienstplänen denkbar, dies wurde aber von keinem befragten Imam so vorgeschlagen. Denn es würde bedingen, dass eine Gemeinschaft mehr als einen Imam bezahlen kann, was im Moment vermutlich auf der schwierigen finanziellen Lage der Mehrheit der muslimischen Vereine kaum umzusetzen wäre.

Zusammengefasst wird sichtbar, dass die Rolle des Imams in der Schweiz wenig formalisiert ist, denn Imame beschreiben unterschiedliche Tätigkeitsbereiche. Es wird im Rahmen der Forschung aber auch deutlich, dass Imame in der Schweiz mit einem erweiterten Tätigkeitsbereich konfrontiert sind, der zum Beispiel sozialarbeiterische Beratung umfasst, für die sie in den noch meist in muslimischen Ländern absolvierten Ausbildungsgängen nicht vorbereitet werden und sich selber Kenntnisse aneignen müssen. Imame sind der Meinung, dass sie eine wichtige Rolle innerhalb der muslimischen Gemeinschaften einnehmen, beschreiben sich jedoch aufgrund der Ansprüche der Mitglieder teilweise als überlastet. Hier würden insbesondere Vereinbarungen über die Tätigkeitsbereiche und ihren Umfang eine Möglichkeit darstellen, der Überlastung entgegenzuwirken und damit verhindern, dass sie sich als ein 24h-«Call Center» wahrnehmen.

Literatur

Akça, A., A., (2020). Moscheeleben in Deutschland. Eine Ethnographie zu Islamischem Wissen, Tradition und religiöser Autorität. Bielefeld: transcript.

Trucco, N. (2023). «Wir sind Menschen, wir sind nicht Engel oder unmenschliche Etwas». Eine Subjektivierungsanalyse von Imamen in der Schweiz. Unveröffentlichte Dissertationsschrift. Fribourg: Philosophische Fakultät, Universität Fribourg.

Literatur

Bundesrat, Der (2021). Professionalisierungsanreize für religiöse Betreuungspersonen. Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates 16.3314 Ingold vom 27. April 2016. 

Eser Davolio, M., Adili, K., Rether, A. & Brüesch, N. (2021). Die Rolle muslimischer Betreuungspersonen und islamischer Gemeinschaften bei der Prävention islamistischer Radikalisierung unter besonderer Berücksichtigung der Aus- und Weiterbildung von Imamen in der Schweiz. Studie im Auftrag des Bundesamts für Justiz und des Staatssekretariats für Migration. Zürich: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Hänggli, R. & Trucco, N. (2022). Bad guy or good guy? The framing of an imam. Studies in Communication Sciences, 3, 437–456. 

Schmid, H. & Trucco, N. (2019a). SZIG/CSIS-Studies 3. Bildungsangebote für Imame – ein Ländervergleich aus Schweizer Perspektive. .Fribourg: Schweizerisches Zentrum für Islam und Gesellschaft, Universität Fribourg. 

Schmid, H., & Trucco, N. (2019b). SZIG-Papers 7. Bildungswege von Imamen aus der Schweiz. Fribourg: Schweizerisches Zentrum für Islam und Gesellschaft, Universität Fribourg.

Schmid, H., (2020). “I’m just an Imam, not Superman”: Imams in Switzerland. Between Stakeholder Objects and Self-Interpretation. Journal of Muslims in Europe, 9, 64–95.

Schmid, H. & Trucco, N. (2022). Former les imams en Suisse ? Entre gouvernance politique et autoréflexion islamique. In: Gisel, Pierre, Philippe Gonzalez und Isabelle Ullern (2022). Former des acteurs religieux: entre radicalisation et reconnaissance (83–106). Labor et fides.

Tezcan, L. (2008). Governmentality, Pastoral Care and Integration. In: Al-Hamarneh, Ala und Jörn Thielmann (Hg.). Islam and Muslims in Germany (119–132). Leiden: Brill.