Salafismus – ein vielfältiges Phänomen

Silvia Martens, Andreas-Tunger-Zanetti, Jürgen Endres, Universität Luzern, 2023

Mit «Salafismus» oder Salafiyya wird eine konservative, am Koran und den Überlieferungen des Propheten Muhammad ausgerichtete Strömung des Islam bezeichnet, die unter anderem durch eine wörtliche Auslegung der religiösen Quellen, ein dichotomes Weltbild und eine aktive Missionstätigkeit gekennzeichnet ist. Über diese Kennzeichnung hinaus bleibt der Begriff sowohl in wissenschaftlichen als auch in medialen und politischen Diskussionen oft diffus und wird bisweilen unpassend mit Begriffen wie Wahhabismus, Dschihadismus, Islamismus oder politischer Islam vermengt oder gleichgesetzt. Obwohl Salafismus in der Schweiz eine Randerscheinung ist, hat der Begriff besonders im Zeitraum von 2009 bis 2018 im Zuge der Berichterstattung über religiöse Radikalisierung und islamisch begründeten Extremismus viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten.

Erst gegen 2020 begannen sich Forscherinnen und Forscher empirisch dem Salafismus in der Schweiz zu widmen. Das Folgende orientiert sich an der jüngsten und umfangreichsten Darstellung unter diesen Studien, die sich empirisch allerdings auf die Deutschschweiz beschränkt (Endres et al. 2023), da Kontakte und Vernetzungen in den Salafi-Milieus ihrer Beobachtung nach nur selten die innerschweizerischen Sprachgrenzen überschreiten. Gemeinsam ist den jüngeren Studien, dass sie sich den vielfältigen Erscheinungsformen von Salafiyya, den gesellschaftlichen Positionierungen von Salafis in der Schweiz sowie den Dynamiken innerhalb dieses religiösen Spektrums aus kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektiven nähern und nicht Sicherheitsfragen oder Radikalisierung in den Mittelpunkt stellen. So konzentriert sich die Studie von Amir Sheikhzadegan (2020) auf biographische Verläufe, Mira Menzfeld (2021, 2022) auf die Lebenswirklichkeit und Partnerschaftsbeziehungen im Salafi-Milieu.

Wer ist ein Salafi?

Sprachlich ist die Bezeichnung Salafi abgeleitet von «as-salaf-aṣ-ṣāliḥ», den «frommen, tugendhaften Altvorderen» aus der Generation des Propheten Muhammad sowie den zwei unmittelbar folgenden Generationen. Eine Herausforderung besteht für die Forschung zur heutigen Salafiyya stets in der Abgrenzung des Feldes. Die Übergänge zu anderen islamischen Strömungen neo-konservativer oder fundamentalistischer Prägung sind fliessend. Personen, die von Dritten als «Salafi», «Wahhabi», «Muslimbruder» usw. bezeichnet werden, lehnen diese Benennung oft ab. Auch die Abgrenzung zu einem konservativen sunnitischen Mainstream ist nicht einfach, da die Salafiyya in vielem etablierte islamische Vorstellungen aufgreift, diese dann aber oft auf eigene Weise akzentuiert oder auslegt. Das Luzerner Forschungsteam ordnet daher Akteur:innen (Personen, Institutionen) oder einen Diskurs nur dann der Salafiyya zu, wenn von verschiedenen Kriterien eine Mehrheit im Einzelfall zutrifft. Zu den Kriterien gehören der ständige Bezug auf den Koran, die Sunna und as-salaf-aṣ-ṣāliḥ, das Anprangern von bidaʿ (Neuerungen in Glaubenslehre oder -praxis), ein wortgetreues Verständnis der Quellen, eine dichotome Weltsicht, das Beharren auf einer ‹rationalen› und schriftbasierten Herleitung jeglicher Argumente und die Bedeutung der daʿwa (‹Einladung› zum Islam, Mission).

Klein, heterogen und dynamisch

Legt man diese Arbeitsdefinition zugrunde, so umfasst das gesamte Spektrum der Salafiyya in der Deutschschweiz geschätzt zwischen rund 400 und 1100 Personen. Diese verteilen sich auf mehrere ‹Cluster›, die je ihr eigenes Profil haben und sich mitunter explizit voneinander abgrenzen.

Ein Cluster hat sich um Studenten der Islamischen Universität Medina formiert und orientiert sich an den Lehrinhalten und am Diskurs der von anderen so genannten Madḫaliyya, einer Richtung mit Zentrum in Saudi-Arabien (benannt nach dem 1933 geborenen Gelehrten Rabīʿ b. Hādī al-Madḫalī). Dieses Cluster ist überwiegend apolitisch und verlangt Loyalität gegenüber dem Staat. Anhänger:innen dieser Richtung konzentrieren sich auf den Erwerb islamischen Wissens und die persönliche religiöse Praxis.

Ein zweites Cluster gruppiert sich rund um den Kern aktiver Mitglieder des Islamischen Zentralrats (IZR, vormals Islamischer Zentralrat Schweiz, IZRS). Es zeichnet sich durch eine starke Ausrichtung auf die Schweizer Politik und Gesellschaft aus, legt sich in dogmatischen und islamrechtlichen Fragen aber oft nicht fest. Von den zahlreichen Passivmitgliedern des IZR dürfte jedoch nur ein Teil enger an der Salafiyya orientiert sein.

Ein extremistisches Cluster lässt sich nur ansatzweise ausmachen. Durch Gerichtsverfahren und journalistische Recherche erkennbar ist eine Gruppe rund um ehemalige Besucher der An-Nur-Moschee in Winterthur [evtl. nochmals Link/Rückbezug auf Text zu «Radikalisierung»]. Über ihre weltanschauliche Ausrichtung ist aktuell nur wenig Konkretes bekannt.

Einzelne Salafis und Gruppen verorten sich auch zwischen diesen drei Hauptclustern, nähern sich diesen an oder distanzieren sich über die Zeit von ihnen. Das Feld ist sehr dynamisch – es entstehen und verschwinden schnell wichtige Akteur:innen.

Wie lässt sich diese Dynamik und Schnelllebigkeit erklären? Die Salafiyya ist vor allem, aber nicht ausschliesslich, für Jugendliche und junge Erwachsene attraktiv, die in ihr Bedürfnisse wie etwa nach Identität, Orientierung oder Gemeinschaft erfüllt sehen. Häufig kommt es zu Distanzierungen oder expliziten Abwendungen, wenn sich die Bedürfnisse im Laufe biographischer Prozesse verändern.

Salafiyya – kein Ort für Frauen?

Frauen mögen für Aussenstehende weniger sichtbar sein, es gibt sie aber in allen Clustern der Salafiyya in der Deutschschweiz. Sie bewegen sich – mit Ausnahme der IZR-Frauen – stärker in informellen Gruppen im privaten oder halb-privaten Bereich. Es gibt auch reine Frauengruppen, deren Mitglieder sich teilweise bevorzugt im virtuellen Raum treffen, weil sich dies mit den Pflichten der Frauen in Haushalt und Familie besser vereinen lässt.

Obwohl Frauen im Salafi-Milieu weniger zahlreich sind als Männer, gehen auch unter ihnen die Vorstellungen, wie ein frommes Leben in der Schweiz aussehen soll, auseinander. Mira Menzfeld hat dies am Beispiel der Vorstellungen zur Frage der Polygynie (Ehe eines Mannes mit mehr als einer Frau) empirisch anschaulich gezeigt (2022).

Salafis, Staat und Gesellschaft

Die vom Luzerner Forschungsteam befragten Salafis schätzen im Allgemeinen zwar die wirtschaftliche Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit in der Schweiz, nehmen das gesellschaftliche Klima und die Schweizer Politik aber als sehr ablehnend gegenüber praktizierenden Muslimen wahr und erleben im Alltag Herausforderungen am Arbeitsplatz, in der Schule oder bei Freizeitaktivitäten. Einige erwägen deshalb die Auswanderung (hiǧra) in eine «muslimische» Gesellschaft.

Weder die Orientierung an Vorstellungen der Salafiyya allgemein noch der Wunsch auszuwandern sind jedoch an sich schon als «Radikalisierung» im Sinn einer gefährlichen Nähe zu Gewaltsympathien zu deuten. Nur in Ausnahmefällen und nur in Verbindung mit weiteren Faktoren müssen Salafis als radikalisiert oder extremistisch eingestuft werden. In diesen Fällen können Ursachen und Verlauf sehr unterschiedlich sein, nicht immer besteht ein Bezug zu religiösen Überzeugungen [vgl. Beitrag «Radikalisierung»]. In der Studie des Luzerner Forschungsteams wurden Fälle beleuchtet, bei denen u.a. etwa eine hohe Gewaltaffinität, die eigene Perspektivlosigkeit und das Bedürfnis, Grenzen auszutesten, hinter den Radikalisierungen standen (Endres 2022).

Zusammenfassend lässt sich sagen: Salafis zeichnen sich durch ihr Bestreben aus, auch in Details des Alltags dem Lebenswandel des Propheten Muhammad und seiner Anhängerschaft zu folgen. Sie positionieren sich dadurch in einem gewissen Sinn abseits der Gesellschaft wie auch der grossen Mehrheit der Musliminnen und Muslime in der Schweiz. Auch zahlenmässig sind sie ein Randphänomen.

Literatur

Logvinov, Michail (2017). Salafismus, Radikalisierung und terroristische Gewalt. Erklärungsansätze – Befunde – Kritik.Wiesbaden: Springer VS.

Nedza, Justyna (2014). « ‹Salafismus› – Überlegungen zur Schärfung einer Analysekategorie». In: Behnam T. Said; Hazim Fouad (Hg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam. Freiburg im Breisgau: Herder, S. 80–105.

Schmid, Hansjörg; Trucco, Noemi; Biasca, Federico (2022). Swiss Muslim communities in transnational and local interactions: Public perceptions, state of research, case studies. SZIG/CSIS-Studies 7, 2022.