Migrationsgeschichte

Aus welchen Ländern sind Musliminnen und Muslime in die Schweiz migriert und warum?

Bis in die 1960er Jahre lebten nur wenige Musliminnen und Muslime in der Schweiz. Eine verstärkte Einwanderung fand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt. Die Gründe, aus denen sich muslimische Migrierende seit dieser Zeit in der Schweiz niederliessen und niederlassen, haben zur Unterscheidung von mindestens drei Einwanderungswellen geführt. Diese Wellen entsprechen in ihren grossen Linien jenen der meisten anderen mittel- und nordeuropäischen Länder.

Die Arbeitsmigration der 1960er Jahre

Die erste Phase der Einwanderung vollzieht sich im Zuge der Anwerbung von saisonalen Arbeitskräften zum Wiederaufbau der Schweizer Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach zunächst vor allem italienischen und schliesslich auch anderen südeuropäischen Gastarbeitern kommen seit Mitte der 1960er Jahre mehr und mehr Arbeitskräfte aus mehrheitlich muslimischen Ländern in die Schweiz: Sie stammen vor allem aus dem wirtschaftlich gebeutelten Jugoslawien, das mit der Schweiz im Jahre 1965 ein Abkommen über Einreisekontingente für Arbeitskräfte abschliesst; aber auch aus der Türkei, mit der ein vergleichbares Abkommen aufgrund von Vorbehalten in Politik und Bevölkerung fehlt, deren Einwanderern aufgrund des hohen Bedarfs an billigen Arbeitskräften aber dennoch meist eine Einstellung zuteil wird (vgl. Haab et al., 2010, S. 36-38). Die meist männlichen und jungen Arbeiter reisen zumeist während mehrerer Jahre in die Schweiz ein, um Geld sowie Know-How zu erwerben, das sie dann in ihre Heimatländer transferieren können. Eine dauerhafte Niederlassung planen sie zu dieser Zeit zunächst noch nicht.

Der Familiennachzug der 1970er Jahre

Mit der zweiten Phase der Einwanderung wird oft der Nachzug der bislang im Heimatland verbliebenen Ehefrauen und Kinder zu ihren Ehemännern bzw. Vätern in die Schweiz bezeichnet. Dieser Prozess fällt in eine Zeit einwanderungspolitischer Umbrüche. Mit der am 7. Juni 1970 knapp abgelehnten Abstimmungsinitiative «Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat» von James Schwarzenbach waren scharfe gesellschaftliche Debatten gegen die Immigration zu vieler Ausländerinnen und Ausländer entfacht worden.

Die Familienzusammenführung durch Nachzug von Frauen und Kindern wurde dennoch Mitte der 1970er Jahre durch eine Gesetzesänderung in der Schweiz ermöglicht. Der Bedarf an Arbeitskräften aus dem Ausland nimmt zeitgleich im Zuge der Öl- und Wirtschaftskrise seit Mitte der 1970er Jahre rapide ab, so dass Jahresaufenthaltsbewilligungen aufgekündigt oder nicht mehr erneuert werden (vgl. ebd., S. 39). Viele muslimische Familien mit Möglichkeit in der Schweiz zu bleiben, geben in dieser Zeit die Perspektive auf eine dauerhafte Rückkehr in ihre Heimatländer auf. Aufgrund besonders schlechter Zukunftsaussichten ist der Anteil der türkischen Familien, die sich dauerhaft in der Schweiz niederlassen (ca. 21’990 Personen im Jahre 1980), zunächst deutlich höher als derjenige von Familien aus den Balkan-Ländern (ca. 3’720 Personen im Jahre 1980). Die Zusammensetzung der muslimisch geprägten Bevölkerung in der Schweiz verschiebt sich jedoch von nun an beständig: Als die Schweizer Wirtschaft sich in den 1980er Jahren wieder im Aufschwung befindet, beginnt eine weitere Welle der Einwanderung von unqualifizierten Saisonarbeitern aus den wirtschaftlich weiterhin kriselnden Balkan-Ländern. 1990 befinden sich bereits ca. 28’473 Personen aus den Balkan-Ländern gegenüber 41’272 türkischen Staatsbürgern dauerhaft in der Schweiz (Quelle: BFS, SE 2016-2018).

Politische und Kriegsflüchtlinge

Eine dritte Gruppe an Einwandererinnen und Einwanderern konstituiert sich vielmehr durch einen gemeinsamen Migrationsgrund als dass sie eine weitere Einwanderungswelle ausmachen würde: Es sind politische Flüchtlinge oder Aktivisten, die seit den 1960er Jahren teils ganz ohne Asylantrag aus dem Maghreb in die Schweiz kommen, wo im Vergleich zu Frankreich und später zu ganz Europa bis in die 1990er Jahre keine Visapflicht für Personen aus Nordafrika herrscht (vgl. Fibbi et al., 2014, S. 36-38); es sind zudem die zunehmend kurdischstämmigen Personen aus der Türkei, die in den 1980er und 1990er Jahren vor den gewaltsamen Kurdenkonflikten des Landes fliehen und natürlich die zahlreichen Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien zu Beginn der 1990er Jahre. Letztere begründen den bis heute besonders hohen Anteil von Musliminnen und Muslimen aus den Balkan-Ländern im Vergleich mit solchen anderer Herkunftsländer: bereits im Jahre 2000 lebten ca. 115’000 Musliminnen und Muslime aus den heutigen Gebieten Bosnien-Herzegowina, Albanien, Serbien, Nordmazedonien, Montenegro und Kosovo in der Schweiz, gegenüber 45’038 Personen aus der Türkei und 4’358 aus Marokko, Algerien und Tunesien. Bis heute kommen Musliminnen und Muslime als politische Flüchtlinge in die Schweiz, sie stammen in den letzten Jahren insbesondere aus dem Irak, dem Sudan, Syrien und Afghanistan. Ihr zahlenmässiger Zugang hat gegenüber den grösseren Einwanderungswellen seit den 1960er Jahre jedoch auch aufgrund der Schweizer Aufnahmepolitik sehr stark abgenommen (siehe Kapitel: Welche Nationalität haben die Musliminnen und Muslime in der Schweiz?).

Quelle der Zahlen: Bundesamt für Statistik, Neuenburg, SE 2016-2018, STATPOP 2019.