« Ich bin keine Feministin, obwohl ich Muslima bin. Ich bin Feministin, weil ich Muslima bin »

Dahlia

Feminismus und Islamität

 Sébastien B. Dupuis, Universität Freiburg, 2023

Historisch-politische Konstruktion eines Oxymorons

Der weibliche Körper spielt eine wichtige Rolle bei der Bildung symbolischer Grenzen zwischen sozialen Gruppen. Die normative Definition ‘der Frau’ trägt nämlich zur Abgrenzung der Gruppe bei, sei sie nun kulturell, religiös, rassifiziert, ethnisch und/oder national. Die soziale Konstruktion der ‘muslimischen Frau’ ergibt sich aus den historisch-politischen Beziehungen zwischen Europa und den mehrheitlich muslimischen Ländern, die den Islam und den Feminismus als Oxymoron geformt haben.

Die Kolonialisierung ist ein Grundstein für die Konstruktion dieser Antinomie zwischen Islam und Geschlechtergleichheit. Am Ende des 19. Jahrhunderts rechtfertigten die Kolonialmächte ihre Herrschaft als zivilisatorische Mission. Unter Rückgriff auf eine ‘humanistische’ Rhetorik versuchten sie, die vermeintliche kulturelle Unterlegenheit der kolonisierten Völker nachzuweisen, insbesondere durch die stereotype Instrumentalisierung der sozialen Stellung der Frauen im Islam. Damit kehrte der koloniale Feminismus das Herrschaftsverhältnis um: Europa nahm sich das Recht heraus, die Anderen nicht auf der Grundlage willkürlicher und ungerechter Kriterien zu beherrschen, sondern um ihnen die vermeintlichen ‘Segnungen’ der Zivilisation zu bringen. Durch Kolonialausstellungen, wissenschaftliche Diskurse, Reiseberichte, Fotografien und Kunstwerke verbreitete sich die zivilisatorische Rhetorik in allen europäischen Ländern und wurde von den Menschen in diesen Gesellschaften internalisiert. So hat sich das Bild der ‘unterwürfigen muslimischen Frau als Opfer’ in der gesellschaftlichen Vorstellungswelt festgesetzt.

Auch die Art und Weise, wie sich die feministischen Kämpfe in Europa formiert haben, trägt zur Aufrechterhaltung dieser Vorstellung bei. Feministisches Denken in Europa hat sich tatsächlich zunächst gegen das religiöse Denken positioniert und so die Vorstellung geprägt, dass die Emanzipation der Frauen nur innerhalb einer säkularisierten Gesellschaft möglich ist. Bestimmte feministische Strömungen, die sich als universell bezeichnen, sind der Ansicht, dass keine Auseinandersetzung in einem religiösen Rahmen geführt werden kann, und tragen damit dazu bei, Haltungen als unzulässig zu betrachten, die nicht mit islamischen Bezugspunkten gebrochen haben. Diese Position wird zwar kritisiert, ist aber in den staatlichen Institutionen relativ fest verankert, wie verschiedene Gesetze zum Islam zeigen, die als Instrument zur Emanzipation der ‘muslimischen Frau’ dargestellt werden und damit aber letztlich deren Agency negieren.

Darüber hinaus instrumentalisieren einige politische Parteien feministische Kämpfe für nationalistische Zwecke, indem sie dem Anderen, insbesondere dem muslimischen Ausländer, einen außerordentlichen Sexismus zuschreiben. Westliche Gesellschaften haben die Gleichheit der Geschlechter und der Sexualitäten als Emblem der Demokratie etabliert und damit eine sexualisierte Grenze zwischen einem ‘Wir’ und einem ‘Sie’ geschaffen (Fassin, 2006). Dieser Prozess der Alterisierung von Sexismus und Frauenfeindlichkeit verstärkt das Verständnis des Islam als letzte Bastion des Patriarchats und damit seiner Unvereinbarkeit mit der Gleichstellung der Geschlechter.

Helvetische Konstruktion des Oxymorons

Der soziale Raum der Schweiz ist von diesem Phänomen nicht ausgenommen. Seit der Abstimmung über die erleichterte Einbürgerung (2004) ist der Islam zu einem öffentlichen ‘Problem’ geworden und hat eine starke politische und mediale Präsenz erlangt. Diese Mediatisierung hat insbesondere das Bild der ‘unterwürfigen muslimischen Frau als Opfer’ mobilisiert, um eine angebliche Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie zu ‘demonstrieren’. Die Anti-Minarett-Initiative (2009) und die Anti-Burka-Initiative (2021) sind prominente Beispiele für dieses Phänomen.

Neben der symbolischen Bedeutung dieser Diskurse haben diese Befürchtungen jedoch auch materielle Auswirkungen. Die Reform des Ausländergesetzes (2005) und die entsprechenden Durchführungsbestimmungen haben die Gleichstellung der Geschlechter zu einem entscheidenden Kriterium für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und damit zu einem Integrationskriterium gemacht. Obwohl die Förderung der Gleichstellung von zentraler Bedeutung ist, tragen diese administrativen Massnahmen zur Alterisierung des Sexismus bei: Schweizer (nicht-muslimische) Frauen seien emanzipiert und Schweizer (nicht-muslimische) Männer würden die Gleichstellung respektieren; muslimische Frauen seien hingegen unterwürfig und muslimische Männer sexistisch.

Diese binäre und stereotype Konstruktion wird auch von einigen Schweizer Medienproduktionen propagiert. Der Islam wird regelmässig aus der Genderperspektive betrachtet und als inhärent sexistische Kultur dargestellt, was zur Verbreitung eines Bildes der ‘muslimischen Frau’ beiträgt, der es an Agency fehlt. Diese Darstellungen werden in die soziale Vorstellungswelt der Schweiz integriert und tragen dazu bei, dass eine feministische Haltung, die sich auf islamische Bezugspunkte beruft, nicht akzeptiert wird.

Islam und Feminismus

Historische Forschungen haben jedoch gezeigt, dass Forderungen nach Gleichstellung in muslimisch geprägten Gesellschaften bereits vor der Kolonialisierung existieren. Die Vorstellung, dass der Kampf für die Gleichberechtigung der Geschlechter ein Produkt der europäischen Zivilisation sei und dass muslimische geprägte Gesellschaften daher nicht in der Lage seien, einen Feminismus hervorzubringen, erweist sich somit als inkonsistent.

Verschiedene muslimische Theologeninnen haben die Emanzipation der Frau durch Koranexegese vorangetrieben. Diese Neuinterpretationen des Korans aus einer egalitären Perspektive zeigen, dass der Islam nicht von Natur aus gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter gerichtet ist. In jüngerer Zeit haben muslimische Frauen ihre Kämpfe als islamischen Feminismus bezeichnet und damit die Emanzipation der Frau in einem religiösen Bezugssystem verankert. Diese Beispiele zeigen, dass der Islam nicht grundsätzlich unvereinbar mit feministischen Positionen ist, sondern dass dieser Gegensatz auf einer sozio-historischen Konstruktion beruht.

Dieser Begriff bezieht sich auf feministische Praktiken und Diskurse, die innerhalb eines islamischen Paradigmas ihren Platz finden. Der islamische Feminismus zielt darauf ab, Rechte und Gerechtigkeit für Frauen und Männer in allen Lebensbereichen (Politik, Recht, Religion, Arbeit, Familie usw.) zu erlangen. Islamische Feministinnen beziehen ihr Verständnis und ihre Autorität aus dem Koran und lesen den Koran, die Hadithe und Fiqh aus einer historischen und feministischen Perspektive neu. Der Begriff wurde Anfang der 1990er Jahre von iranischen Feministinnen in der Diaspora geprägt, um einen neuen Diskurs unter gläubigen Frauen zu beschreiben, der in der iranischen Zeitschrift Zanan (Frauen) veröffentlicht wurde. Der Begriff wurde bald auch in anderen Zusammenhängen aufgegriffen, um Haltungen zu beschreiben, die ausgehend von einem islamischen Verständnis die Gleichberechtigung der Geschlechter einfordern.

Islamischer Feminismus in der Schweiz

Diese Konstruktion erschwert jedoch den Einbezug muslimischer Frauen in die feministische Bewegung. Im Rahmen einer Untersuchung innerhalb eines feministischen Kollektivs muslimischer Frauen in der Westschweiz wurde dies als eine Herausforderung formuliert. Dennoch sehen sie keinen Widerspruch zwischen ihrem Feminismus und ihrer Islamität: Ihre doppelte Zugehörigkeit erfordert keine Strategie, um miteinander zu vereinbaren. Im Gegenteil, sie sind der Ansicht, dass sich ihre feministischen Forderungen aus ihrem Glauben ableiten, wie das Zitat am Anfang dieses Artikels zeigt.

Meine Gesprächspartnerinnen stellen fest, dass der Islam die Gleichberechtigung der Geschlechter einführt, da die Offenbarung den Frauen Rechte in einem Kontext einräumt, in dem sie zuvor keine Rechte hatten. Aus einer historischen Perspektive heraus argumentieren sie, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter ein integraler Bestandteil der Offenbarung ist, die sie aufgrund des vorherrschenden vorislamischen Patriarchats schrittweise einführt. Diese Frauen schlagen somit eine emanzipatorische Lesart des Korans vor, die sich einerseits gegen bestimmte sexistische und ungleiche Interpretationen wendet und sich andererseits der essentialisierenden Sichtweise auf den Islam widersetzt, die einen Grossteil der politischen Diskurse beherrscht, wie beispielsweise in den Debatten um Minarette und die Vollverschleierung. Diese emanzipatorische Interpretation ergibt sich auch aus den Werten, die sie dem Islam zuschreiben, nämlich: Gleichheit, soziale Gerechtigkeit und Nicht-Diskriminierung. Ausgehend von ihren religiösen Erfahrungen und diesen Werten bezeichnen sich meine Gesprächspartnerinnen also als Feministinnen.

Die Haltung, die diese muslimischen Frauen und Feministinnen in der Schweiz einnehmen, ist ein Echo auf den internationalen Diskurs, der eine umfassende Revision der islamischen Quellen fordert und an dem sich mehrere muslimische Theologinnen und Aktivistinnen aktiv beteiligen.

Dr. Amina Wadud, alias ‘Lady Imam’, Gastprofessorin an der Nationalen Islamischen Universität in Yogyakarta, Indonesien.

So schlägt Amina Wadud (1999), ausgehend von der ontologischen Natur der im Koran propagierten Geschlechtergleichheit, eine Neuinterpretation verschiedener Verse vor, die eine anti-emanzipatorische Interpretation liefern könnten, um dieses Potenzial zu neutralisieren. Aus einer ähnlichen Perspektive versucht Asmaa Barlas (2002), die patriarchale Logik zu dekonstruieren, die ihrer Meinung nach die muslimische Exegese strukturiert. Allerdings steht der Text selbst manchmal in Spannung zu einem emanzipatorischen Verständnis desselben, was einige islamische Feministinnen dazu veranlasst, ihm zu widersprechen. Sie schlagen vor, jene Passagen zu widerlegen, die eine egalitäre Interpretation des Korans einschränken und die ihrer Meinung nach aus dem überwiegend patriarchalischen Kontext resultieren, in dem der Koran offenbart wurde.

Wie einige islamische Feministinnen bezieht auch dieser Feminismus, der in einem postsäkularen und schweizerischen Kontext angesiedelt ist, seine Legitimität zum Teil aus dem Koran. Dieses Beispiel zeigt, wie der Islam als Ressource dienen kann, um in einer Gesellschaft zu navigieren, die von einer normativen Sicht auf ‘die muslimische Frau’ geprägt ist. Durch die Überwindung eines essentialistischen Verständnisses des Islams, das ihn als Hindernis für die individuelle Entfaltung und die Emanzipation der Körper darstellt, veranschaulicht es das Potenzial der Koranlektüre: das Potenzial für Empowerment und Agency, das Potenzial für soziale Transformation.

Stereotypen überwinden

Dieser Artikel lädt dazu ein, dichotome Verständnisse der Gesellschaft zu überwinden und sie in ihrer Komplexität zu denken. Obwohl gewisse soziopolitische Diskurse dazu tendieren, Muslime als eine homogene Gruppe zu definieren, deren Handeln einzig und allein durch einen ‘totalisierenden’ und ‘totalitären’ Text bestimmt wird, zeigt sich, dass der Islam vielfältig ist. Die MuslimeInnen in der Schweiz sind genauso vielfältig wie ihre MitbürgerInnen und verfügen über die gleiche Agency. Darüber hinaus zeigt der Artikel die Pluralität der Lesarten des Korans und der Sunna auf und demonstriert damit die Anpassungsfähigkeit dieses Textkorpus.

Dupuis, Sébastien B.

Literatur

Frauenemanzipation und Islam

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