«Früher gab es nur unabhängige Personen, an die sich der Staat wenden konnte, heute versuchen wir, das Angebot der sozialen Aktion innerhalb der Vereine stärker zu strukturieren und zu professionalisieren»

Chaouki Daraoui, Sozialeinrichtung des Muslimischen Kultur-Komplexes von Lausanne

Muslimisches soziales Handeln

Mehr als religiöse Angebote

Besucht man einen Moscheeverein, so lässt sich häufig feststellen, dass es dort mehr gibt als Gebetszeiten, Predigten und religiöse Unterweisung. Daneben werden Nachhilfeunterricht für Kinder, Freizeitaktivitäten für Jugendliche, Krankenbesuche, Beratung in Lebensfragen oder materielle Hilfe für Notleidende angeboten. Damit leisten die Moscheevereine zunächst Selbsthilfe für ihre Mitglieder. Manche Moscheevereine stellen sich aber auch gezielt die Frage, welcher Bedarf in ihrem Umfeld besteht, der sie verpflichtet, solidarisch tätig zu werden. So werden im Fastenmonat Ramadan oft Mahlzeiten für Bedürftige angeboten. Auf diese Weise sind auch Unterstützungsangebote für Flüchtlinge entstanden. Aufgrund der teilweise sprachlichen, kulturellen und religiösen Nähe zu diesen Personengruppen können Moscheevereine hier eine Brückenfunktion leisten. Diejenigen, die diese Aktivitäten durchführen, sind in der Regel freiwillig tätig und verfügen über unterschiedliche Qualifikationen, die in manchen Fällen auch sozialarbeiterische Kompetenzen umfassen. Nur selten werden die Freiwilligen von hauptamtlich tätigen Fachpersonen begleitet. In manchen Fällen lösen sich muslimische Hilfeangebote von den Moscheevereinen, um sich auf diese Weise stärker spezialisieren und teils auch professionalisieren zu können. Beispiele dafür sind die Vereine Tasamouh in Biel oder die muslimische Seelsorge in Zürich (QuaMS).

Hilfe als wichtiger Teil von Religion

Anderen Menschen zu helfen ist ein zentraler Impuls in den Religionen. Auch im Islam gibt es seit seiner Entstehungszeit im 7. Jahrhundert Traditionen der Hilfe für Arme, Witwen und Waisen. Glaube und soziales Handeln als Einsatz für Gerechtigkeit gehören dabei aus islamischer Sicht untrennbar zusammen. Auf der einen Seite steht das Ideal einer uneigennützigen Hilfeleistung, die unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Hilfeempfangenden erbracht wird, um damit einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Auf der anderen Seite dienen soziale Angebote in religiösen Gruppierungen auch dem Gemeindeaufbau und der Gewinnung von (neuen) Mitgliedern. Damit kann auch das Ziel verbunden sein, dass möglichst viele Aktivitäten innerhalb einer bestimmten religiösen Gruppierung wahrgenommen werden. Allein schon wenn Hilfeleistungen in den Räumlichkeiten von Moscheevereinen erbracht werden, lassen sich soziale und religiöse Anliegen der Anbieter oft nicht klar voneinander trennen. Aus der Sicht professioneller Sozialer Arbeit steht jedoch der Mensch mit seiner Würde und seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt, was etwa im Bereich der Kirchen zu einer stärkeren Trennung von der Gemeindearbeit beigetragen hat.

Auch wenn die sozialen Angebote von Moscheevereinen oft einen primär gemeindeinternen Charakter aufweisen, werden sie vielfach auch von Personen in Anspruch genommen, die nicht dem Verein angehören. In manchen Fällen werden auch Nichtmuslime erreicht. Wie breit und professionell soziales Handeln ist, hängt wesentlich auch von den materiellen Ressourcen ab, über welche die Anbieter verfügen. Die zur Verfügung stehenden Mittel der Moscheevereine, die sich weitgehend aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanzieren, sind meist begrenzt. Vor diesem Hintergrund diskutieren Musliminnen und Muslime in der Schweiz seit ein paar Jahren darüber, ob die Almosenabgabe (zakat), die für sie als religiöse Pflicht gilt, nicht nur hauptsächlich in die Herkunftsländer geschickt, sondern verstärkt in der Schweiz investiert werden soll. Dabei stellt sich auch die Frage, in welcher Form diese Mittel auch Nichtmuslimen zugute kommen sollen.

Eine wichtige Funktion für Staat und Gesellschaft

Religiöse Ideen und Einrichtungen leisteten einen wichtigen Beitrag für die Entstehung des Sozialstaats seit dem 19. Jahrhundert. Der schweizerische Sozialstaat ist dadurch gekennzeichnet, dass nichtstaatliche Akteure zentrale Funktionen übernehmen und zahlreiche Dienstleistungen erbringen. Damit mobilisieren religiöse Vereine wichtige Ressourcen für die Gesamtgesellschaft. Entsprechend allgemeiner gesellschaftlicher Trends haben sich inzwischen Hilfeangebote vielfach von den religiösen Institutionen gelöst. Innerhalb einer Vielfalt von sozialen Dienstleistern spielen jedoch religiöse Akteure weiterhin eine wichtige Rolle. Dazu gehören die kirchlichen Hilfswerke Caritas und HEKS (Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz), aber auch die Jüdische Fürsorge und das Sozialwerk der Heilsarmee. Sie sind auch kritische Stimmen in Diskussionen über Armut und soziale Gerechtigkeit. Teilweise arbeiten muslimische Akteure auf lokaler Ebene bereits mit anderen Hilfswerken zusammen. Auf diese Weise können sie Teil bestehender Netzwerke werden und einen Beitrag zum sozialen Frieden in der Schweiz leisten. Soziales Handeln kann auch Gegenstand des interreligiösen Dialogs sein. So haben jüdische, christliche und muslimische Religionsgemeinschaften in der Schweiz im Jahr 2018 gemeinsam mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR unter dem Titel «Gegenüber ist immer ein Mensch» eine interreligiöse Erklärung zu Flüchtlingsfragen veröffentlicht.

Auf dem Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung

Während religiöse Institutionen heute von vielen Menschen kritisch betrachtet werden, geniessen aber gerade die sozialen Angebote von Religionsgemeinschaften ein hohes Ansehen in der Gesellschaft. Manche Kantone (wie Bern, Waadt und Zürich) betrachten Religion verstärkt nach dem Kriterium der Nützlichkeit und koppeln ihre finanzielle Unterstützung für Religionsgemeinschaften an Dienstleistungen in den Bereichen Soziales, Kultur und Bildung. Bislang beschränkt sich die staatliche Finanzierung aber auf die öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften. Angesichts der sozialen Angebote nicht anerkannter Religionsgemeinschaften wird sich in Zukunft verstärkt die Frage stellen, ob im Sinne von Gleichbehandlung auch diese unterstützt werden sollen. In der Schweizer Gesellschaft werden die muslimischen Gemeinschaften oft kritisch wahrgenommen. Sie stehen somit vor der Herausforderung, sich durch Transparenz, Abgrenzung gegenüber radikalen Positionen, Kommunikation und Dialog verstärkt Glaubwürdigkeit zu erarbeiten. Ein Teil der muslimischen Gemeinschaften hat sich in den letzten Jahren durch Projekte in den Bereichen Seelsorge in öffentlichen Institutionen oder Prävention gegen Radikalisierung bereits als Ansprechpartner von Behörden bewährt. Für andere Gemeinschaften, die bislang stark nach innen ausgerichtet sind, steht dieser Schritt noch bevor. An vielen Orten finden sich aber Beispiele von Moscheevereinen, die sich in den letzten Jahren stärker in ihrem lokalen Umfeld verankert haben.

Literatur

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Banfi, E. (2018). Welfare Activities by New Religious Actors. Islamic Organisations in Italy and Switzerland. Cham: Palgrave Macmillan.

Baumann, M., Neubert, F., Schmid, H., Sheikhzadegan, A., Trucco, N. & Tunger-Zanetti (2019). Schlussbericht  Regelung des Verhältnisses zu nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften. Untersuchung im Auftrag der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich.

Begić, E. (2019). Das soziale Handeln im Islam. Perspektiven – Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft und Muslimische Wohlfahrtspflege, 1, 9-27.

Brassel-Moser, R. (2012). Hilfswerke. Historisches Lexikon der Schweiz

Brodard, B. (2019). Innovative social work practices by Islamic grassroots organizations in Switzerland. Politikon 42, 40-60. 

Brodard, B. (in Druck). L’action sociale musulmane en Suisse: entre intérêts communautaires et contribution au bien commun. Dissertation, Universität Freiburg.

Bundesamt für Sozialversicherungen (2013). Geschichte der sozialen Sicherheit in der Schweiz.

Degen, B. (2016). Sozialstaat. Historisches Lexikon der Schweiz

Deutsche Islam Konferenz (2015). DIK-Studie Soziale Dienstleistungen von Muslimen.

Kanton Zürich, Direktion der Justiz und des Innern (2017). Staat und Religion im Kanton Zürich. Eine Orientierung des Regierungsrats des Kantons Zürich.

Schmid, H., Biasca, F., Brodard, B., & Lang, A. (2020). SZIG-Papers 11. Muslimisches soziales Handeln. Von der Gemeinschaft zur Gesellschaft. Freiburg: Universität Freiburg.

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Schmid, H. & Sheikhzadegan, A. (éd.) (2022). Exploring Islamic Social Work. Between Community and the Common Good. Cham: Springer.

Schweizerischer Rat der Religionen (2018). Gegenüber ist immer ein Mensch. Interreligiöse Erklärung zu Flüchtlingsfragen.

Links

Islamic Social Services Association (ISSA) USA.

Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (o. J.). Freiwilligenarbeit.